Bäckereien schließen früher, Kitas nehmen keine neuen Kinder auf, weil sie keine Erzieher*innen finden und wenn im Haushalt eine dringende Reparatur ansteht, kann man sich den Anruf beim Handwerker sparen: volle Auftragsbücher, wochenlange Auslastung. Eindrücke, die sich beim Blick in die Tageszeitung oder beim Zappen durch Polit-Talkshows fast täglich bestätigen. Es ist ein Szenario, das sich angekündigt hatte. Denn dass es in Deutschland – genauso wie in den umliegenden europäischen Ländern – zunehmend mehr ältere Menschen als jüngere geben würde, weiß man spätestens seit den niedrigen Geburtenraten in den 1990er- und 2000er-Jahren. Hinzu kommt, dass jetzt und in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer-Generation den Arbeitsmarkt verlassen. Allein in Nordrhein-Westfalen gehen nach Berechnung der Bundesagentur für Arbeit in den kommenden zehn Jahren rund 1,6 Millionen Menschen in den Ruhestand, darunter rund 900.000 Fachkräfte. Das heißt: Die Fachkräftelücke wird sich vergrößern. Auch das G.I.B.INFO hat diese Entwicklung in der Vergangenheit immer wieder thematisiert. In Heft 1_11 zog Anja Kettner, seinerzeit Leiterin der Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) dieses Fazit: „Es gibt einen relevanten Fachkräftemangel hauptsächlich in den Ingenieur- und IT-Berufen (…), sowie aktuell in einigen sozialen Berufen – insbesondere bei Erziehern, Alten- und Krankenpflegern. Auf längere Sicht sind (…) größere Anstrengungen aller Akteure auf dem Arbeitsmarkt notwendig, die vorhandenen Potenziale zu mobilisieren, die in bisher vernachlässigten Zielgruppen des Arbeitsmarktes, in Aus- und Fortbildung und auch in der Zuwanderung liegen. Nur so wird – bei gegebener demografischer Entwicklung – eine Stabilisierung des Fachkräfte-Arbeitsmarkts langfristig möglich sein.“ Doch trotz allen arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt heute noch dramatischer, als es vor einigen Jahren prognostiziert wurde. Woran liegt das?
Alte und neue Herausforderungen
Manche Phänomene auf dem Arbeitsmarkt erscheinen widersprüchlich. Nie zuvor waren in Deutschland mehr Menschen erwerbstätig als Ende des Jahres 2022. 41,7 Millionen Menschen befanden sich laut einer IAB-Erhebung im dritten Quartal 2022 in einer abhängigen Beschäftigung – Rekordniveau. Beschäftigungseinbrüche aus Zeiten der Covid-19-Pandemie sind damit überwunden, heißt es in der Erhebung. Von 2015 bis 2022 erlebte das Land einen Beschäftigungszuwachs von 7,7 Prozent. Vor allem Ältere und Frauen konnten in der Erwerbstätigenquote mit einem Plus von knapp 14 bzw. 6 Prozent deutlich zulegen. Angesichts dieser Zahlen erscheint es paradox, dass überall Personalengpässe vermeldet werden. Zumal der Krieg in der Ukraine und die damit einhergehende Energiekrise die Wirtschaftsentwicklung dämpfen wird und es noch 2,5 Millionen arbeitslose Menschen gibt. Gleichzeitig gab die IAB-Stellenerhebung für das Ende des vergangenen Jahres bundesweit knapp zwei Millionen offene Stellen an. Auch das ist ein Rekord. Roland Schüßler, Geschäftsführer der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesagentur für Arbeit ordnet diese Zahlen ein: „Insgesamt ist es zunächst einmal positiv, dass wir trotz vergangener und aktueller Krisen über die letzten Jahre einen immensen Beschäftigungszuwachs verzeichnen konnten. Nur erleben wir zurzeit große Passungsprobleme auf dem Arbeitsmarkt. Das heißt: Oft passen die offenen Stellen nicht zu den Personen, die arbeiten können und wollen.“ Dieses sogenannte Mismatch könne unterschiedliche Ursachen haben, so Roland Schüßler weiter. Etwa, dass sich die Arbeitsstelle in Aachen befindet, der Arbeitsuchende aber in Bielefeld lebt. Dann läge ein regionales Mismatch vor. Oder aber die Qualifikationen der suchenden Person entsprechen nicht den Anforderungen, die die Stelle mit sich bringt – ein qualifikatorisches Mismatch. „Rein rechnerisch passen Angebot und Nachfrage zwar zusammen, unsere Fachkräfteengpassanalyse zeigt uns jedoch, dass wir in allen Bereichen große Passungsprobleme haben.“
Doch was den positiven Effekt des Beschäftigungszuwachses nahezu verpuffen lässt, ist die Tatsache, dass das Arbeitsvolumen nicht proportional zur Beschäftigung mitgewachsen ist. Bernd Zimmer, Vorsitzender vom Verband der Freien Berufe im Lande Nordrhein-Westfalen stellt für den Gesundheitsbereich fest: „Wir haben noch nie so viele Ärztinnen und Ärzte wie heute gehabt. Doch die Monatsstundenleistung eines Arztes ist heute bei Weitem nicht mehr so hoch wie früher. Das beobachten wir auch bei Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Wir haben also kein Kopfdefizit, sondern ein Fachkräftestundendefizit.“ Zur Einordnung: Bundesweit stieg die tatsächlich geleistete Arbeitszeit von 2015 bis 2022 um 4,9 Prozent, also fast drei Prozentpunkte weniger als die Beschäftigung. Das lässt sich auf einen erhöhten Krankenstand und Kurzarbeit während der Corona-Pandemie zurückführen, aber auch auf eine gestiegene Teilzeitquote. Insbesondere bei Frauen: Fast die Hälfte der beschäftigten Frauen arbeiten in Teilzeit; bei Müttern in Beschäftigung sind es sogar 66 Prozent.
Demografischer Wandel, qualifikatorische und regionale Passungsprobleme auf dem Arbeitsmarkt und ein niedriges Arbeitszeitvolumen sind treibende Faktoren für den Fachkräftemangel. Hinzugekommen sind aber auch neue Herausforderungen. In ihrem Strategiepapier zur Fachkräftesicherung spricht die Bundesregierung von den „drei großen D“: der bereits erwähnte demografische Wandel, die Digitalisierung und die Dekarbonisierung bzw. der Umstieg von der Nutzung fossiler Brennstoffe auf kohlenstofffreie und erneuerbare Energien. Digitalisierung und Dekarbonisierung sind jedoch Schwerter mit zwei Klingen. So lässt sich schon heute feststellen, dass durch Digitalisierung und Automatisierung einzelne Tätigkeiten verschwinden. Zeitungen lesen wir zunehmend digital, die Speisekarte im Restaurant rufen wir per QR-Code auf unserem Smartphone auf und auch das Ticket fürs Konzert oder Kino lösen wir so ein. Arbeitsplätze in der Verlagswirtschaft, im Buchhandel und in der Papiertechnik werden dadurch weniger.
Die Liste an Beispielen für Berufe oder Tätigkeiten, die wegfallen oder sich verändern, ist lang. „Es gibt keinen Beruf, der sich nicht in irgendeiner Form durch die Digitalisierung verändern wird. Nur in unterschiedlicher Ausprägung“, sagt Roland Schüßler. Aber: Die Digitalisierung birgt auch großes Potenzial. Berthold Schröder, Präsident des Westdeutschen Handwerkskammertages, macht das an einem Beispiel deutlich: „Innenwände für Gebäude können heute dank integrierter Planungsprozesse direkt mit Bohrlöchern an der exakt gewünschten Stelle produziert werden, sodass nachträgliches Bohren nicht mehr notwendig ist. Solche ‚Building Information Modeling-Systeme‘ bringen einen großen Effizienzgewinn für den Bausektor mit sich. Digitalisierung wird ein Schlüssel dafür sein, Arbeit effizienter zu gestalten.“ Und sie kann den Unterschied im Ringen um Nachwuchskräfte machen. Ralf Stoffels, Präsident der IHK NRW und der Südwestfälischen IHK zu Hagen, weist darauf hin: „Betriebe, die in der Digitalisierung schon sehr weit sind, haben es wesentlich leichter, Nachwuchskräfte anzulocken. Bei der IHK zu Hagen gibt es zum Beispiel ein Projekt, in dem Sie mit VR-Brille das Schweißen lernen können. So etwas fasziniert und interessiert die junge Generation. Betriebe, die bei Digitalisierung und Nachhaltigkeit nicht mitziehen, werden es schwer haben, junge Leute für sich zu gewinnen.“
Auch die Dekarbonisierung ruft gegensätzliche Effekte hervor: Im Bereich der fossilen Energien und in der Automobilindustrie werden Jobs und Tätigkeiten wegfallen, während neue im Sektor erneuerbare Energien entstehen. Weil aber die Einhaltung der Klimaziele viel zu lange vernachlässigt wurde und jetzt rasches Handeln verlangt, sind schon heute erhebliche Engpässe in den Bereichen Energie- und Gebäudetechnik, Heizungs- und Klimatechnik sowie im Bereich Bau zu spüren. „Um Gebäude zu dämmen, alte Heizungen durch Wärmepumpen zu ersetzen und Solarpanels auf Dächer zu montieren, fehlen schon jetzt deutschlandweit rund 250.000 Fachkräfte im Handwerk“, sagt Berthold Schröder. Doch wie kann man dieser Situation Abhilfe verschaffen?
Ausbildung wieder attraktiv machen
Wenn man die Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt nicht findet oder bekommt, bildet man sie eben selbst aus. Das erscheint plausibel. Können Betriebe den Nachwuchs doch dadurch gezielt auf die Aufgaben im Unternehmen vorbereiten und gleichzeitig qualifizierte Mitarbeitende von morgen an sich binden. Nur leider sind Auszubildende ebenso schwer zu finden wie fertige Fachkräfte. Auch der Ausbildungsmarkt ist von großen Passungsproblemen geprägt. Überhaupt hat die duale Ausbildung über die Jahre bei jungen Menschen massiv an Attraktivität eingebüßt. Neu ist auch diese Erkenntnis nicht.
Schon seit Jahren geht der Trend bei den 16- bis 22-Jährigen eher in Richtung Studium. Bei Politik und Wirtschaft herrscht Konsens darüber, dass das auch an einer vernachlässigten Beruflichen Orientierung an Gymnasien liegt. Viele fordern deshalb, dass die Chancen, die mit einer dualen Berufsausbildung einhergehen, in der Beruflichen Orientierung an Gymnasien wieder stärker ins Blickfeld gerückt werden sollen. „Eigentlich haben wir in NRW mit KAoA [der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“; Anm. d. Red.] ein gutes System, um flächendeckend jungen Menschen Berufliche Orientierung mitzugeben. Ich stelle jedoch fest, dass es uns schwerfällt, Gymnasien im Rahmen der Beruflichen Orientierung für eine Ausbildung im Handwerk aufzuschließen. Wir möchten niemanden dazu zwingen, sich für eine Ausbildung im Handwerk zu entscheiden, aber ich halte es für unsere Pflicht, junge Menschen darüber zu informieren, dass auch dieser Weg viele Chancen für sie bereithält. Ohne das Handwerk wird unser Land nicht klimaneutral. Wer sich für eine Ausbildung im Handwerk entscheidet, kann dem Planeten langfristig etwas Gutes tun. Aber darüber müssen sie auch Bescheid wissen“, so Berthold Schröder.
Ein Problem ist allerdings auch, dass sich viele junge Menschen, die eigentlich für den Ausbildungsmarkt infrage kämen, in den Übergangssystemen befinden, weil sie keinen Ausbildungsplatz bekommen. In NRW betrifft das rund 44.000 Jugendliche, heißt es in einer Pressemitteilung des DGB NRW. Anja Weber, Vorsitzende des DGB NRW fordert darin: „Das ist angesichts des Fachkräftemangels alarmierend. (…). Damit jeder Jugendliche, der einen Ausbildungsplatz sucht, auch einen bekommt, muss die Landesregierung die Unternehmen in die Pflicht nehmen. Wir brauchen endlich eine umlagefinanzierte Ausbildungsplatzgarantie.“
Ein weiteres Problem sieht Gerhard Bosch, Senior Professor am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen, im „Reputationsverlust” der Berufsausbildung. Dieser resultiere zum einen aus der „Erosion des Mittelschichtversprechens infolge der wachsenden Einkommensungleichheit”, zum anderen aus den Folgen der Bildungsexpansion und den damit verbundenen „wachsenden Statuserwartungen”, wie er in der Zeitschrift „Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis“ des Bundesinstituts für Berufsbildung ausführt. Gerhard Bosch möchte damit den Blick erst einmal weg von bildungspolitischen Reformen lenken, die nicht allein geeignet seien, das Image der dualen Berufsausbildung zu verbessern. Vielmehr gehe es um eine „nachhaltige Aufwertung und höhere gesellschaftliche Anerkennung von Facharbeit”. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn ich heutzutage mit einer Berufsausbildung nicht mehr das erreichen kann, was mir früher damit versprochen wurde, gibt es auch keinen überzeugenden Grund, eine solche Ausbildung zu absolvieren. Diese These teilt Ralf Stoffels so nicht: „Wer heute eine duale Ausbildung in einem mittelständischen Metall-, Elektro- oder Chemiebetrieb macht, kann nach abgeschlossener Ausbildung mit einem Startgehalt von 3.000 bis 4.000 Euro brutto rechnen. Weil der Arbeitsmarkt heute ein Bewerbermarkt ist und dort Fachkräfte, Abteilungsleiter, Anlagemechaniker für millionenteure Anlagen fehlen. Macht man nach der Ausbildung zum Beispiel noch eine Weiterbildung zum Techniker, steht man finanziell sehr gut da. Meines Erachtens gibt es diese Einkommenslücke nicht, wenn sich jemand in der dualen Ausbildung aktiv einsetzt und weiterkommen möchte.“
Attraktivitätssteigernd auf die duale Ausbildung könnte sich nach Meinung von Berthold Schröder zudem eine höhere Durchlässigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung auswirken. „Wenn jemand nach vier Semestern Maschinenbaustudium feststellt, dass es der falsche Weg für sie oder ihn ist, muss es Möglichkeiten geben, die erbrachten Studienleistungen in einer handwerklichen Ausbildung anrechnen zu lassen. Das könnte eine Brücke sein, die jungen Menschen den Weg ins Handwerk ebnet und es attraktiv für sie macht.“ Dem pflichtet Ralf Stoffels bei und erinnert daran, dass die Studienabbruchquote im Erststudiengang bei über 30 Prozent liege. „Diese Menschen müssen ja irgendwo bleiben. Also müssen wir sie angesichts unserer Situation für eine Ausbildung gewinnen.
Betriebe müssen aber auch dementsprechend offen gegenüber nicht immer geradlinigen Lebensläufen sein. Und nicht zu vergessen: Über sechs Prozent der Jugendlichen haben überhaupt keinen Abschluss. Ob Studienabbrecher oder Schulabbrecher, wir können es uns gesellschaftlich nicht leisten, jemanden auf der Strecke zu lassen.“ Damit das System insgesamt durchlässiger wird und beide Bildungswege die gleiche gesellschaftliche Anerkennung erfahren, wäre es wohl auch an der Zeit, die Vergleichbarkeit von Ausbildung und Studium gesetzlich zu verankern. „Wenn jemand mit einem Meistertitel genauso behandelt wird wie jemand mit einem Bachelor, hätte das langfristig einen positiven Effekt“, so Berthold Schröder.
Gleichwertigkeit meint im Übrigen auch, dass beide Bildungswege mit gleichen Mitteln finanziert werden müssen. Denn während durch den Hochschulpakt in den letzten Jahren Milliarden in den Ausbau von Universitäten flossen, fielen die Investitionen in Berufsschulen und berufliche Bildungsstätten eher spärlich aus. „Wir könnten viel mehr Medizinische Fachangestellte ausbilden, doch die Berufsschulen melden Land unter, weil sie den jungen Leuten keine Plätze zur Verfügung stellen können. Es müssen nicht nur neue Einrichtungen gebaut, sondern die bestehenden auch so ausgestattet werden, dass darin nach modernsten Standards ausgebildet werden kann, damit junge Menschen auch mit Begeisterung dort hingehen“, sagt Bernd Zimmer.
Gezielte Weiterbildung
Mindestens so wichtig, wie junge Menschen dafür zu begeistern, Erzieher*in, Pfleger*in, Dachdecker*in oder Anlagemechaniker*in zu werden, ist es jedoch, die Menschen, die schon im Beruf stehen, auf die Veränderungen von morgen vorzubereiten. Wie schon angedeutet werden durch den Strukturwandel nicht nur Tätigkeiten verschwinden, vielmehr erfordern sie von den Beschäftigten auch neue Kompetenzen. Gezielte Weiterbildung ist deshalb aus Sicht von Roland Schüßler der zentrale Hebel für die Fachkräftesicherung. „Durch den technischen Fortschritt werden mehr neue Stellen entstehen als wegfallen. Die große Herausforderung wird also sein, wie wir die Kompetenzen der Beschäftigten entsprechend erweitern können. Dafür müssen uns die Unternehmen spiegeln, wo und wie sich Berufe verändern, damit wir als Arbeitsagentur gemeinsam mit den Kammern des Handwerks sowie der Industrie und des Handels, aber auch den Volkshochschulen und Universitäten die Menschen abholen und passgenau weiterbilden können.“
Dieses und weitere Ziele hat sich die Bundesregierung mit ihren Partnern im September 2022 in der Fortsetzung der Nationalen Weiterbildungsstrategie gesetzt. So soll zum einen die Weiterbildungsbeteiligung bis 2030 auf 65 Prozent gesteigert und zum anderen heterogene Zielgruppen gezielter unterstützt werden. Anders ausgedrückt: Weiterbildung soll sich nicht nur an Fachkräfte, sondern auch an Langzeitarbeitslose, Geringqualifizierte und zugewanderte Menschen sowie an kleinere und mittlere Unternehmen richten. Das Herausfordernde daran sei, die Menschen von diesem Weg zu überzeugen, so Roland Schüßler. „Menschen, die keinen Schulabschluss vorweisen können, häufige Berufswechsel hinter sich haben und immer auf Helferniveau gearbeitet haben, können wir nicht einfach sagen, ‚So, jetzt macht mal eine Qualifizierung‘. Das wird nicht funktionieren. Wir müssen sie davon überzeugen, dass das der richtige Weg für sie ist und ihnen mit unseren Angeboten entgegenkommen. Was ich meine, ist: Müssen wir dem beschriebenen Personenkreis zwei Jahre Schulbank in Präsenz zumuten? Wir haben zum Beispiel während der Pandemie gelernt, dass auch andere Lernformen effektiv sein können. Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam die berufliche Bildung weiterzuentwickeln. Dazu gehören auch die Lernformen. Welche Angebote zur Qualifizierung wollen wir in Zukunft machen? Das müssen wir gemeinsam in den Blick nehmen.“ Es bedarf einer intensiven Betreuung und Qualifizierung, um diese Menschen nachhaltig in Arbeit zu bringen, ist auch der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann überzeugt. Denn häufig sind diese Menschen nicht unmittelbar in eine Beschäftigung integrierbar. Eine Möglichkeit sind persönliche Coachings.
Für zugewanderte Menschen und formal Geringqualifizierte sollen modulare Nachqualifizierungsangebote geschaffen werden, heißt es im Strategiepapier der Bundesregierung. Diese sollen eine bereits erworbene berufliche Vorerfahrung stärker berücksichtigen und so die Qualifizierungszeit deutlich verkürzen. Teilnehmende holen dabei nur die Module nach, die ihnen zum Berufsabschluss noch fehlen. Für zusätzlichen Anreiz soll eine Weiterbildungsprämie in Höhe von 150 Euro im Monat sorgen, die an Bürgergeld-Empfänger*innen ausgezahlt wird.
Und weil berufliche Weiterqualifizierung häufig am Zeitmangel scheitert, möchte die Bundesregierung eine Bildungs(teil)zeit einführen. Nach österreichischem Vorbild sollen so alle Mitarbeitenden während der Berufslaufbahn Anspruch auf eine bezahlte Bildungszeit haben. Bis zu einem Jahr soll diese genommen beziehungsweise auf zwei Jahre verlängert werden können, wenn sich Mitarbeitende parallel zum Job weiterqualifizieren und währenddessen in Teilzeit arbeiten möchten. Die Bundesagentur für Arbeit soll in dieser Zeit den Unterhalt auf Höhe des Arbeitslosengeldes sicherstellen. Voraussetzung hierfür soll sein, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmende zuvor darauf verständigen. Genau daran übt der Deutsche Gewerkschaftsbund jedoch Kritik. Er fordert stattdessen einen rechtlichen Freistellungsanspruch für die Dauer der Weiterbildung, „damit Arbeitnehmer*innen Lernzeiten für Weiterbildung verbindlich in Anspruch nehmen können“, heißt es in einer Stellungnahme des DGB zum Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums zur Stärkung der Aus- und Weiterbildungsförderung und Einführung einer Bildungszeit; also auch ohne Zustimmung des Arbeitgebers, ließe sich daraus schließen.
Damit Betriebe, Beschäftigte und Arbeitsuchende Weiterbildungen auch tatsächlich wahrnehmen, brauche es vor allem Transparenz über die Angebote, so Roland Schüßler. „Es muss eine zentrale Anlaufstelle geben, bei der man sich über berufliche Weiterbildung informieren kann. Dazu muss aber erst einmal klar sein, welche Inhalte die neuen Qualifizierungen haben werden. Ganz selbstkritisch: Wir haben bei der Weiterbildung noch viele Fortschreibungen aus den letzten Jahren. Es ist Zeit, dass wir, das schließt die Kammern und Verbände mit ein, uns mit den Bildungsträgern an einen Tisch setzen, um ein zukunftsgerichtetes Weiterbildungsportfolio zu konzipieren.“
Arbeitsvolumen und Erwerbsbeteiligung erhöhen, Zuwanderung vereinfachen
In kaum einem anderen Land der Europäischen Union sind so viele Frauen erwerbstätig wie in Deutschland. Doch wie bereits zuvor erwähnt arbeitet rund die Hälfte von ihnen in Teilzeit. Also fast jede zweite Frau und bei den Müttern sogar fast jede dritte. Welches Potenzial für den Arbeitsmarkt in teilzeitbeschäftigten Müttern schlummert, hat das Baseler Beratungsunternehmen Prognos im letzten Jahr in einer Szenariorechnung ermittelt. Von 5,2 Millionen beschäftigten Müttern mit Kind unter 18 Jahren arbeiten rund 2,5 Millionen weniger als 28 Stunden pro Woche. Würden diese Mütter ihre wöchentliche Arbeitszeit um nur eine Stunde erhöhen, ergäbe das in Summe 2,5 Millionen Wochenstunden zusätzlich. Bei einer Wochenarbeitszeit von 36 Stunden entstünden laut der Berechnung 70.000 neue Vollzeitstellen.
Warum so viele Frauen „nur“ in Teilzeit arbeiten, ist bekannt: Care-Arbeit, also die Betreuung von Kindern oder auch pflegebedürftigen Angehörigen, ist nach wie vor stärker bei Frauen als bei Männern verortet. Daran hat sich trotz aller politischen und gesellschaftlichen Diskussionen faktisch nicht viel geändert. Das Institut für Demoskopie Allensbach fand 2022 in einer repräsentativen Befragung von Eltern in Paarverbindungen unter anderem heraus: In 82 Prozent der Familien ist der Mann der Hauptverdiener, auch wenn sich die Bildungsvoraussetzungen von Männern und Frauen kaum unterscheiden. Weil es aber einen akuten Personalmangel in der Kinderbetreuung gibt, haben viele Frauen häufig keine Entlastung. Tendenziell bleiben sie dann eher zu Hause als die Männer. Die Behebung dieses Dilemmas liegt auf der Hand: Möchte die Politik die Erwerbsbeteiligung von Frauen vor dem Hintergrund dieser noch immer vorherrschenden Rollenklischees erhöhen, braucht sie mehr Erzieher*innen sowie Kranken- und Altenpfleger*innen. Zumal durch die kriegsbedingte Zuwanderung aus der Ukraine der Kinderbetreuungsbedarf noch einmal gestiegen ist. Um junge Menschen für den Beruf der Erzieherin oder des Erziehers zu gewinnen und bestehendes Personal zu halten, möchte die Bundesregierung horizontale und vertikale Karrieremöglichkeiten fördern. Sprich: ihnen durch Weiterbildung zu ermöglichen, Expert*in in ihrem Bereich zu werden sowie die Aufstiegschancen in der Kita zu erhöhen.
Allerdings genügt es nicht, allein für Mütter die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Sie muss gleichermaßen für Väter berücksichtigt werden, wenn eine Erhöhung des Arbeitsvolumens von Müttern das Ziel ist. Daher gilt es generell, noch stärker eine familienfreundliche Arbeitskultur in den Unternehmen zu etablieren. Etwa durch mehr Flexibilität bei Arbeitszeit und Arbeitsort, aber auch durch bessere Arbeitsbedingungen. Das hätte nicht nur einen positiven Effekt auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen. Denn wer sich am Arbeitsplatz wohl und wertgeschätzt fühlt, erkrankt erwiesenermaßen weniger und ist eher bereit, mehr für das Unternehmen zu investieren.
Erwerbspotenzial, das nach wie vor vernachlässigt wird, sind außerdem ältere Beschäftigte und arbeitslose Menschen mit Behinderung. Dabei sind Letztere häufig höher qualifiziert als Arbeitslose ohne Behinderung. Deshalb möchte die Bundesregierung künftig Betriebe stärker dabei unterstützen, diese Personengruppe zu beschäftigen. Auch hier kann Digitalisierung Möglichkeiten schaffen: Kommunikationshilfen wie Sprach-Ein-und-Ausgabe-Software für Computer können zum Beispiel bei Bürotätigkeiten genutzt werden. Entscheidender aber ist wohl die Haltung von Unternehmen gegenüber Menschen mit Behinderung. Im Deutschlandfunk machte Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung und selbst von Geburt an stark sehbehindert, deutlich: „Wir müssen vor allem damit beginnen, diese Vorurteile, die ja bei Unternehmen bestehen, auch immer wieder vorgetragen werden, also Menschen mit Behinderungen seien nicht leistungsfähig, sie seien ständig krank, man könne ihnen nicht kündigen und so weiter, dass wir mal mit diesen Vorurteilen aufräumen. Sie sind alle falsch.“ Rund 166.000 Menschen mit Behinderung stünden dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, wenn das Potenzial besser ausgeschöpft würde, heißt es auf der Internetseite der Bundesregierung.
Das größte noch zu hebende Arbeitskräftepotenzial im Inland sieht der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber vom IAB aber in der Gruppe der Älteren. Gegenüber ARD sagte er: „Wenn die Menschen im Alter von 60 bis 69 Erwerbsquoten hätten wie die fünf Jahre Jüngeren, würde man im deutschen Arbeitsmarkt knapp zweieinhalb Millionen Arbeitskräfte gewinnen.“ Deshalb brauche es betriebliche und übergreifende Konzepte dazu, welche Tätigkeitsprofile Ältere übernehmen könnten und wie sie rechtzeitig in diese Richtung qualifiziert werden könnten, so sein Appell an Politik und Wirtschaft. Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit dürfte allerdings in großen Teilen dieser Personengruppe auf Unmut stoßen, wie der Blick nach Frankreich zeigt, wo kürzlich hunderttausende Menschen gegen die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters demonstrierten. Andererseits gibt es auch eine nicht unerhebliche Anzahl älterer Menschen, die unter den richtigen Bedingungen gerne länger arbeiten würden. Deshalb muss Arbeit so gestaltet werden, dass Arbeitnehmende nicht krankheits- oder erschöpfungsbedingt vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden und wenn sie es wünschen, auch über das reguläre Rentenalter hinaus arbeiten können.
Trotz aller möglichen Maßnahmen ist der deutsche Arbeitsmarkt nach wie vor auf die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland angewiesen. Das IAB hat ausgerechnet, dass eine Nettozuwanderung von 400.000 bis 500.000 Personen pro Jahr notwendig wäre, um den demografischen Wandel abzufedern. Doch bislang scheitert dies allzu häufig an der aufwendigen Bürokratie und der Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll das ändern. So sollen Menschen aus Drittstaaten künftig auch ohne die vorherige formale Anerkennung ihrer Berufsqualifikation die Möglichkeit zur Einreise und zum Arbeiten haben. Stattdessen soll die Berufserfahrung stärker berücksichtigt werden. Die neue Chancenkarte auf Basis eines Punktesystems soll potenziellen Fachkräften zudem die Einreise erleichtern, um hier nach einem Job suchen zu können. Damit dieses Gesetz aber auch tatsächlich seine Wirkung entfalten kann und zugewanderte Fachkräfte auch dauerhaft hierbleiben wollen, müsse das Land eine entsprechende Willkommenskultur leben, fordert der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann im Interview. Dazu gehöre unter anderem Unterstützung bei der Suche nach einer adäquaten und bezahlbaren Wohnung und gegebenenfalls einem Kita- oder Schulplatz für die Kinder der Zugewanderten. Fachkräftesicherung und Elemente der Daseinsvorsorge fließen in einer solchen Betrachtung somit zusammen.
Allerdings kann man die Anwerbungsbemühungen von Pflegefachkräften im Ausland aus ethischen Gründen auch durchaus kritisch betrachten, so Bernd Zimmer: „Ich halte es unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten und vor dem Hintergrund, dass wir Ressourcen schonen wollen, für bedenklich, Fachkräfte aus Ländern zu rekrutieren, die wirtschaftlich weniger gut aufgestellt sind als wir und viel Geld in die Ausbildung dieser Menschen investiert haben. Es ist ein Unterschied, ob man beispielsweise Maurer aus Portugal anwirbt, die in ihrer Heimat womöglich schwer an Aufträge kommen, oder ob man Personal aus den Freien Berufen wie Pflegefachkräfte, medizinische Fachkräfte oder Ärztinnen und Ärzte nach Deutschland holt. Dieses Personal ist in den Ursprungsländern nicht entbehrlich. Ich bin entschieden dagegen.“ Um einen „Brain Drain“ zu vermeiden, sieht die Bundesregierung von einer Rekrutierung von Fachkräften aus Ländern ab, die selbst einen Fachkräftemangel im Gesundheitsbereich verzeichnen, heißt es im Papier zur Fachkräftestrategie.
Wie komplex das Thema ist, deutet schon die Länge dieses Beitrags an, der noch nicht einmal alle Politikfelder aufnehmen konnte, die von der Arbeits- und Fachkräftesicherung berührt werden. Um tatsächlich dem Ziel näher zu kommen, bedarf es wohl nicht weniger als dem, was sich die Bundesregierung mit ihrer Fachkräftestrategie vorgenommen hat: Die Kräfte aller Akteure des Arbeitsmarkts – Unternehmen und Betriebe, Beschäftigte, Länder und Kommunen, Sozialpartner, die Kammern, die Bundesagentur für Arbeit sowie der Bildungs- und Weiterbildungsträger für die Erreichung dieses Ziels zu bündeln. Ein Weg, den auch das Land NRW eingeschlagen hat. In der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN soll Nachhaltigkeit der Kompass sein: mehr Klimaschutz, eine zukunftsfähige Infrastruktur, Investitionen in Bildung und solide Finanzen. Mit der breit angelegten „Fachkräfteoffensive NRW“, für die am 11. Mai auf einem Fachkongress in Düsseldorf unter der Beteiligung wichtiger Arbeitsmarktakteure der Startschuss gegeben wurde, folgt das Land nun diesem Kompass.
Welche Schwerpunkte die Landesregierung in der Fachkräfteoffensive setzt und welchen Beitrag Unternehmen, Kammern, Verbände, Sozialpartner sowie die Arbeitsverwaltung für die Umsetzung leisten, beleuchten wir im Beitrag über den Fachkongress zur Fachkräfteoffensive NRW. In seinem Eröffnungswort zum Fachkongress hob Minister Karl-Josef Laumann auch die besondere Bedeutung der einzelnen Arbeitsmarktregionen für den Erfolg der gestarteten Fachkräfteoffensive hervor. Schließlich stelle sich die Fachkräftelage in den Regionen sehr unterschiedlich dar. Welche konkreten Impulse und spezifischen Lösungen aus den 16 Regionen kommen, zeigt der Artikel „Die Stärken der Regionalagenturen für die Fachkräfteoffensive NRW nutzen“. Wie Ralf Stoffels zuvor schon betonte, kann die Politik, aber auch die Wirtschaft und Gesellschaft es sich angesichts der Fachkräftesituation nicht erlauben, junge Menschen auf der Strecke zu lassen. Deshalb setzt die Landesregierung mit dem Instrument „Verantwortungsketten“ im Rahmen der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“ nun einen neuen Impuls, um benachteiligten jungen Menschen den Übergang von der Schule in den Beruf zu erleichtern und somit einen wesentlichen Beitrag zur Fachkräftesicherung zu leisten, wie der Beitrag „Neuer Impuls des Landes NRW am Übergang Schule – Beruf“ zeigt. Allerdings gelinge das nur, „indem wir den jungen Leuten anständige Praktikumsplätze anbieten. Diese bekommen wir nur von der Wirtschaft, den Unternehmen in den einzelnen Kommunen“, so Minister Karl-Josef Laumann.