Was tun? Studieren oder eine duale Berufsausbildung absolvieren? Die Antwort fällt vielen jungen Menschen nach Abschluss der allgemeinbildenden Schule nicht leicht. Obwohl sie das Berufsleben noch nicht richtig kennen, müssen sie eine Entscheidung treffen, die ihr weiteres Leben prägt. In dieser Situation kann eine studienintegrierende Ausbildung (SiA) die optimale Lösung sein. Der innovative Ansatz bietet jungen Menschen die Möglichkeit, sich erst auf Basis eigener Erfahrungen für einen von gleich drei möglichen Wegen in das Berufsleben zu entscheiden: die duale Ausbildung, das Studium oder den gleichzeitigen Erwerb von Berufs- und Studienabschluss.
Damit ist SiA ein attraktives Angebot für junge Menschen, die in der Ausbildung ein solides Fundament sehen, sich aber Flexibilität und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten durch verschiedene Optionen offenhalten wollen. Neueste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung zeigen aber auch, dass SiA von besonders orientierten Jugendlichen gewählt wird. Als Grund nennen sie die effiziente Gestaltung des Bildungswegs, sprich kürzere Gesamtdauer für Berufsausbildung und Studium. Zugleich ist SiA ein Angebot für Unternehmen, die ambitionierte junge Menschen als qualifizierte Fachkräfte gewinnen, entwickeln und nachhaltig an sich binden wollen.
Hybride Kompetenzprofile
Organisiert ist das SiA-Konzept so: Die Unternehmen schließen mit den Jugendlichen Ausbildungsverträge und zusätzlich einen Studienvertrag ab. Zugleich melden sie ihre Auszubildenden im üblichen Verfahren am Berufskolleg an. Von dort erfolgt die Abstimmung mit der kooperierenden Hochschule, an der sich die Auszubildenden immatrikulieren.
Die besondere Qualität von SiA: Das Konzept ist konsequent von der Berufsausbildung aus gedacht, die Studieninhalte werden in eine duale Berufsausbildung integriert. Praxiselemente sind grundlegender Bestandteil und laufen nicht nur optional nebenher. Dabei arbeiten Berufskolleg, Betrieb und Hochschule Hand in Hand. Sie entwickeln gemeinsame Lehrpläne und stimmen die Lerninhalte aufeinander ab. Ausbildung und Studium sind also curricular eng miteinander verzahnt. Inhaltliche Redundanzen bleiben den jungen Menschen somit erspart.
In der Grundphase von bis zu 18 Monaten durchlaufen die Lernenden wesentliche Teile einer dualen Berufsausbildung. Zusätzlich werden ihnen an einer Hochschule fachbezogene Studieninhalte vermittelt. Nach der Grundphase haben sie die Möglichkeit, auf Basis ihrer in den drei Lernorten gemachten Erfahrungen für eine der drei Optionen zu entscheiden. So werden mindestens 30 der insgesamt 210 erforderlichen sogenannten ECTS-Punkte aus der dualen Ausbildung auf das Studium angerechnet.
Coaching für SiA-Lernende
Im Prozess der Entscheidungsbildung können SiA-Lernende das Angebot eines Bildungsweg-Coachings in Anspruch nehmen. SiA-Coachs sind speziell qualifizierte Lehrkräfte der Berufskollegs. Sie stehen den Auszubildenden jederzeit für vertrauliche Einzelgespräche über individuelle Themen zur Verfügung. Ein Element des Coachings ist die Laufbahnberatung. Sie begleitet die Auszubildenden von Anfang an und führt sie zum Ende der Grundstufe zu einer erfahrungsbasierten Entscheidung über die Fortsetzung ihres Bildungswegs. Neben der Laufbahnberatung ist der für wissenschaftliches Arbeiten unentbehrliche Themenbereich „Tools und Methoden“ ein weiteres Element des SiA-Coachings, bei dem die Auszubildenden alles Wichtige über Zitierregeln, Quellenangaben sowie Gliederungssystematik erfahren.
Klar ist: Das Lernen an drei unterschiedlichen Orten erfordert ein erhebliches Maß an Selbstorganisation. Deshalb erfahren die Teilnehmenden in einem Workshop Nützliches über Zeitmanagement, Arbeitsstrategien und Selbstmotivation. Ein spezielles Lerncoaching unterstützt bei der Evaluation von Lernmethoden und -strategien sowie der eigenständigen Gestaltung der Lernprozesse. Bei Problemen steht die Krisenberatung zur Seite.
Erste Erfahrungen
Gestartet ist SiA-NRW im Ausbildungsjahr 2021/2022 an zwei Pilotstandorten. Einer davon ist das Max-Weber-Berufskolleg Düsseldorf und die mit ihm kooperierende Hochschule FOM Düsseldorf. Ausgebildet werden hier Kaufleute für Büromanagement in Kombination mit dem Studiengang Business Administration. Für den zweiten Standort sind es das Berufskolleg Jülich und die FH Aachen. Ausgebildet werden hier Industriemechaniker*innen und Feinwerkmechaniker*innen in Kombination mit dem Studiengang Maschinenbau. Mittlerweile sind studienintegrierende Ausbildungen an insgesamt zehn Standorten in Nordrhein-Westfalen möglich: in Düsseldorf, Jülich, zweimal in Aachen sowie in Essen, Frechen, Köln, Krefeld, Mönchengladbach und in Remscheid.
Begleitet werden die Pilotstandorte von drei Verbundpartnern: dem Kreis Düren (Begleitung der Hochschulen), der Bezirksregierung Düsseldorf (Begleitung der Berufskollegs) und der G.I.B., die zuständig ist für die Verbundkoordination und arbeitsmarktpolitische Begleitung. Unterstützt wird die Implementierung der studienintegrierenden Ausbildung von der Geschäftsstelle SiA-NRW, angesiedelt bei der Bezirksregierung Düsseldorf. Sie unterstützt die beteiligten Berufskollegs und ihre Hochschulpartner bei der individuellen Ausgestaltung des Konzepts.
Leiter der Geschäftsstelle SiA-NRW in Düsseldorf ist Jörg Gleißner. Nach seiner Überzeugung leistet SiA einen Beitrag zur Fachkräftesicherung, indem sie als neuartiges, hybrides Ausbildungsmodell die Zusammenarbeit von Berufskollegs, Hochschulen und Unternehmen systematisch miteinander verzahnt: „Dadurch wertet SiA die duale Berufsausbildung auf und macht sie für Jugendliche attraktiver. Durch die Umsetzung dieses Konzepts werden zeitintensive Studienabbrüche vermieden und umfassend ausgebildete Fachkräfte zügig dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt.“
Jörg Gleißner weiß, wovon er spricht, denn neben seiner Funktion als SiA-Geschäftsstellenleiter ist er Leiter des Heinz-Nixdorf-Berufskollegs in Essen, ein Standort, an dem die SiA in verschiedenen IT-Berufen durchgeführt wird. Die Frage, warum er sich als Schulleiter entschieden hat, die studienintegrierende Ausbildung anzubieten, beantwortet er so: „Die Unternehmen in der Stadt Essen und des zentralen Ruhrgebiets sind auf eine starke IT-Kompetenz angewiesen. Dass Bildung als Ressource eine zentrale Rolle spielt, drückt sich in einer dichten Hochschul- und Berufsschullandschaft aus. Die gegenwärtigen Bedarfe wurden uns als Berufskolleg, das auf IT spezialisiert ist, durch die Unternehmen gespiegelt. Besonders die Verknüpfung von Handlungskompetenz im IT-Bereich mit Konzeptionsvermögen bildet eine herausfordernde Aufgabenstellung, für die innovative Lösungen angeboten werden müssen. Zudem stellte sich die Kernfrage, ob Ausbildung und Studium aufeinanderfolgen müssen oder ob sich beides zusammen auch zügiger realisieren lässt. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung ist SiA-NRW unsere Lösung all dieser Herausforderungen.“
Nach seinen Erkenntnissen sehen Unternehmen SiA zunehmend als Instrument der strategischen Personalbindung: „Die studienintegrierende Ausbildung ermöglicht langfristige Arbeitsverhältnisse und damit Sicherheit auf beiden Seiten. Die hybriden Kompetenzprofile der Auszubildenden stärken Unternehmen für die digitale und grüne Transformation und erlauben ihnen ein flexibles Agieren. Das in SiA integrierte Coaching tut sein Übriges, indem es Maßnahmen zur Personalentwicklung erweitert.“
„Sowohl als auch“ statt „entweder oder“
Gleich im ersten Jahr konnte das Heinz-Nixdorf-Berufskolleg 24 Teilnehmende gewinnen. Jörg Gleißner: „Das ist für uns ein großer erster Erfolg.“ Insgesamt nehmen im aktuellen Ausbildungsjahr 2022/2023 84 Jugendliche an acht Standorten die Chancen des Angebots wahr.
Eine davon ist Nadja Konate. Sie absolviert eine Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement bei DKV Mobility in Ratingen und studiert zugleich Business Administration an der FOM Düsseldorf. Für sie stand ein „Entweder oder“ nie zur Debatte, sondern immer nur ein „Sowohl als auch“. Sie wollte später auf jeden Fall studieren, aber zuvor unbedingt eine duale Berufsausbildung absolvieren: „Ich wollte schon immer beides miteinander kombinieren und SiA war die perfekte Möglichkeit, meinen Wunsch schon ein paar Jahre früher zu realisieren.“ Folglich stand für sie die Entscheidung „Doppelabschluss“ schon lange vor Ende der Grundphase fest – trotz der starken zeitlichen Herausforderungen: An drei Tagen in der Woche ist sie im Betrieb, an zwei Tagen besucht sie die Berufsschule und das Studium findet am Nachmittag nach Feierabend oder am Abend statt.
Sehr zufrieden ist sie mit der organisatorischen Verknüpfung der drei Lernorte: „Die unterschiedlichen Inhalte sind gut aufeinander abgestimmt. Im Unternehmen, wo wir die meiste Zeit verbringen, lernen wir in vielen Abteilungen, von Human Resources über Marketing bis hin zum Vertrieb, die Praxis kennen.“
Darüber hinaus legt ihr Ausbildungsbetrieb DKV Mobility großen Wert auf die Mitarbeit in Projekten. So hat Nadja Konate zum Beispiel mitgewirkt an der Erstellung eines Flyers, der die Ausbildungs- und Studienmodelle ausführlich erklärt und der Bewerber*innen um einen Ausbildungs- oder Studienplatz bei der Entscheidungsfindung unterstützen soll. Und das Berufskolleg, ergänzt sie, „liefert das theoretische Wissen zur praktischen Ausbildung im Betrieb, während die Hochschule das theoretische Wissen noch einmal erweitert mit Blick auf das Themenfeld Unternehmensmanagement, also die Bereiche Finanzen, Rechnungswesen, Marketing, Unternehmensführung und Strategie.“ Positiv bewertet sie zudem die Möglichkeit an der Hochschule, von Semester zu Semester immer wieder aufs Neue zwischen Digital- und Präsenzvorstellungen wechseln zu können: „Digital-Vorlesungen haben den Vorteil, dass man sie sich ein zweites Mal anhören kann.“
Anerkennung findet in ihren Augen auch das begleitende Beratungsangebot: „Coaching-Gespräche können hilfreich sein, um eine etwaige Nervosität vor Prüfungen zu reduzieren. Genauso nützlich sind sie, wenn es um die eigene Gestaltung von Lernprozessen, aber auch ganz konkret bei der strategischen Auswahl von Themen für die Hausarbeit geht.“ Nadja Konate sieht sich durch SiA jedenfalls gut vorbereitet für die Abschlussprüfungen vor der IHK und an der FOM. Sie weiß, dass ihr mit dem Doppelabschluss „Kauffrau für Büromanagement“ und „Bachelor Business Administration“ gleich mehrere Karrierewege offenstehen: „Ich war mir von Beginn an sicher, dass die Kombination von Studium und Ausbildung nicht nur meinen Einstieg in die Arbeitswelt erleichtert, sondern mir auch im weiteren Verlauf mehr Karrierechancen eröffnen kann.“
Zum Beispiel bei DVK Mobility, ihrem Ausbildungsbetrieb – der führenden europäischen B2B-Plattform für On-the-Road Paymentlösungen mit rund 1.900 Beschäftigten. Das Unternehmen übernimmt die Studiengebühren und zahlt eine Ausbildungsvergütung. Ausbildungsleiterin Claudia Hanf-Schüler: „Da SiA-Teilnehmende hauptsächlich am Abend studieren, bekommen sie von uns als kleinen Ausgleich für die Doppelbelastung und für die Vorbereitung auf Klausuren an der Hochschule fünf freie Lerntage im Jahr.“ Claudia Hanf-Schüler sind die hohen Ansprüche einer SiA bewusst. Aber sie weiß auch: „An vielen Arbeitsplätzen ist ein Studium Voraussetzung. Deshalb wollen sich viele junge Menschen im Anschluss an ihre duale Ausbildung weiterbilden und beginnen parallel zur Arbeit mit einem Abendstudium. Mit SiA haben sie von Anfang an beide Möglichkeiten. Insofern ist SiA ein richtig gutes Modell sowohl für die jungen Menschen als auch zur Fachkräftesicherung der Unternehmen.“
Wissenschaftliche Begleitung und Weiterentwicklung
So wie in Düsseldorf ist SiA auch am Standort Essen auf Expansionskurs. Um noch mehr Unternehmen für die Ausschreibung studienintegrierender Ausbildungsplätze am Standort Essen zu gewinnen, bewirbt das Heinz-Nixdorf-Berufskolleg in Essen das Modell auf seiner weit über die Region hinaus bekannten „Hausmesse“, dem Berufs- und Studienorientierungstag (kurz: BUS), sowie auf seiner Homepage und mit diversen Flyern. Auch der Hochschulpartner FOM Essen wirkt intensiv mit bei der Gestaltung wie auch bei der professionellen Vermarktung. Zudem waren und sind laut Schulleiter Jörg Gleißner „alle kommunalen Akteure eingebunden: IHK, Arbeitsagentur, der Schulträger, Beratungsstrukturen der Kommunalen Koordinierung. In gemeinsamen Veranstaltungen wurden Unternehmen über das Angebot informiert.“
Ähnliche Unterstützungsstrukturen für das Angebot sind an allen SiA-Standorten zu finden. So begleitet die Fortbildungsakademie der Wirtschaft seit Januar 2023 die Abstimmungsprozesse im Marketing und im Informationstransfer zwischen den Akteuren vor Ort. Ziel ist, den Bekanntheitsgrad des Ausbildungsmodells zu steigern und Teilnehmende zu gewinnen. Zum Arbeitsauftrag gehören unter anderem die Akquise von Ausbildungsplätzen, die Vorstellung der studienintegrierenden Ausbildung in den allgemeinbildenden Schulen sowie Werbeaktivitäten auf den Social-Media-Plattformen.
„Auch die Offenheit der Hochschulen gegenüber dem Konzept entscheidet wesentlich über dessen Erfolg“, meint Jörg Gleißner. Für Christian Rüttgers, den wissenschaftlichen Gesamtstudienleiter des FOM Hochschulzentrums Essen, besteht kein Zweifel an der bildungspolitischen Bedeutung des Konzepts: „Die studienintegrierende Ausbildung in NRW ist ein innovatives Bildungskonzept, welches gut zur FOM Hochschule passt. Voraussetzung ist eine enge Abstimmung zwischen Berufskolleg und Hochschule, da in ausgewählten Modulen eine Anerkennung von speziellem Berufsschulunterricht in einer SiA-Klasse auf das Bachelorstudium erfolgt.“
Eine der ersten drei Hochschulen, die in NRW einen solchen Studiengang umgesetzt haben, war die FH Aachen. Andreas Beumers ist dort Koordinator für die dualen Studiengänge: „Die studienintegrierende Ausbildung war für uns ein Instrument, unseren Studiengang Maschinenbau PLuS, der bereits einige SiA-Merkmale beinhaltete, fortzuentwickeln und gemeinsam mit unserem Partner, dem Berufskolleg Jülich, für eine größere Zielgruppe zu öffnen. SiA-NRW bot uns die Möglichkeit, Unternehmen aus der Region von den Vorteilen der studienintegrierenden Ausbildung zu überzeugen und sowohl für sie als auch für Schülerinnen und Schüler interessanter zu gestalten und einen größeren Mehrwert für alle beteiligten Zielgruppen zu erzielen. SiA-NRW hat unseren Studiengang Maschinenbau PLuS deutlich mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, worüber wir uns als Hochschule natürlich sehr gefreut haben.“
Wissenschaftlich begleitet wird SiA-NRW von Prof. Nicole Naeve-Stoß, Universität zu Köln, und Prof. em. Dieter Euler, Universität St. Gallen. Die beiden Professoren für Wirtschaftspädagogik untersuchen die Entwicklungsprozesse im Projekt im Rahmen einer gestaltungsorientierten Forschung. Seit März 2023 können übrigens alle am SiA-Bildungsangebot interessierten Berufskollegs und Hochschulen als Transferpartner teilnehmen. Jörg Gleißner „Sie sind herzlich willkommen und werden von allen Verbundpartnern gerne beraten.“
Kontakt
FOM Hochschule für Oekonomie & Management
gemeinnützige Gesellschaft mbH
Prof. Dr. Christian Rüttgers
Hochschulzentrum Essen
Wissenschaftliche Gesamtstudienleitung
Tel.: 0201 81004817
christian.ruettgers@fom.deAnsprechperson in der G.I.B.
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