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(Heft 2/2023)
Das Modellprojekt „Prekäre Arbeit in Bielefeld“ (PABi)

Neuer Ansatz im Kampf gegen ausbeuterische Beschäftigung

In Bielefeld und der gesamten Region Ostwestfalen-Lippe werden besonders in Branchen wie der Fleischindustrie und Logistik sowie im Bau- und im Reinigungsgewerbe immer wieder Fälle von ausbeuterischer Beschäftigung bekannt. Viele Menschen, vor allem Zugewanderte aus Ost- und Südosteuropa, arbeiten teils unter prekären oder gesetzeswidrigen Bedingungen im Niedriglohnsektor und/oder in der Zeitarbeit. Um dem etwas entgegenzusetzen, hat die Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung Bielefeld (GAB) in Kooperation mit der Hochschule Bielefeld (HSBI) und gefördert durch das Land NRW sowie mit Mitteln des Corona-Hilfeprogramms REACT-EU bis Ende März 2023 das elfmonatige Modellprojekt „Prekäre Arbeit in Bielefeld“ (PABi) durchgeführt. Es diente unter anderem dazu, lokale Netzwerkstrukturen gegen Arbeitsausbeutung zu initiieren sowie einen regionalen Wegweiser zu Beratungsangeboten zu erarbeiten, der eine schnelle und niederschwellige Hilfe für Betroffene erleichtert.
„Die Situation prekär Beschäftigter und von Arbeitsausbeutung betroffener und bedrohter Menschen hat sich durch die Corona-Pandemie weiter verschärft“, sagt Bernhard Ulrich, der beim Arbeitsministerium NRW die Gruppe „Ordnung auf dem Arbeitsmarkt – Arbeitsmarktpolitik, Migration“ und das Fachreferat „Grundsatzfragen, faire Arbeitsbedingungen, Langzeitarbeitslosigkeit“ leitet. „Die Problemlagen der Betroffenen sind in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch oftmals nicht präsent. Aus diesem Grund haben wir uns dazu entschlossen, das Modellprojekt PABi zu fördern, um das Thema Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung stärker in den Fokus zu rücken.“
 
Die Idee für das Modellprojekt ist direkt aus der täglichen Arbeit der GAB entstanden. Sie ist in Bielefeld Träger einer Beratungsstelle Arbeit (BSA), die in allen 31 Kreisen sowie 22 kreisfreien Städten Nordrhein-Westfalens durch das Landesarbeitsministerium mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Landes gefördert werden. Die BSA setzen zum einen die Angebote der bisherigen Erwerbslosenberatungsstellen fort, zum anderen bilden sie zusätzlich den Grundstein für ein landesweites Netzwerk gegen Arbeitsausbeutung. „Das Projekt haben wir auf der Grundlage der aus der operativen Beratung gewonnenen Erkenntnisse entwickelt, also direkt aus der Praxis Bottom-up“, erklärt Marike Tabor, Projektverantwortliche bei der GAB. „Es war klar: Wir kommen auf der politisch-rechtlichen Ebene nicht weiter, wenn wir das Problem nicht valide darlegen und Belege präsentieren.“ Gleichzeitig seien die Zusammenhänge von Aufenthaltsrecht, Sozialrecht und Arbeitsrecht so komplex und würden sich im Kontext von Arbeitsausbeutung so massiv bedingen, dass man das Thema unbedingt gemeinsam mit den involvierten Institutionen in den Blick nehmen wollte. 
 
Das PABi-Projekt verfolgte gleich mehrere wichtige Ziele. Zunächst stand auf der Agenda, wissenschaftliche Erkenntnisse zu gesundheitsbezogenen Auswirkungen von benachteiligenden Arbeitsbedingungen darzustellen und zu bewerten. Diese Aufgabe und auch eine qualitative Erhebung, in der betroffene Menschen die subjektiv erlebten Auswirkungen benachteiligender Arbeitsbedingungen beschreiben, übernahm Prof. Thomas Altenhöner von der HSBI. Neben einer Literaturauswertung wurden dafür prekär Beschäftigte direkt befragt. Die Interviews mit den betroffenen Menschen, die in der Reinigungsbranche, in der Gastronomie, in der Logistik und in der Fleischindustrie tätig waren, bestätigen einige „klassische“ Befunde aus der Literatur und erweitern diese. Neben finanziellen Existenzsorgen berichteten die Befragten vor allem von durch die prekären Arbeitsverhältnisse bedingten hohen Arbeitsbelastungen, wie Zeitdruck, Arbeitsgeschwindigkeit, schwere körperliche Tätigkeiten oder auch Umweltbedingungen. Fast alle Betroffenen beschreiben größere Gesundheitsprobleme, die ihrer Einschätzung nach auf die Arbeitsumstände zurückzuführen sind. Zudem werden einige arbeitsrechtliche Verstöße sichtbar. Zum Beispiel, wenn einige Arbeitsunfälle nicht als solche deklariert werden und Beschäftigte im Fall von Krankheit oder Verletzung durch Vorgesetzte bei der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen behindert werden. „Insgesamt lässt sich plausibel nachzeichnen, dass prekäre Beschäftigung für viele Betroffene ein konkretes gesundheitliches Risiko bedeutet. Da die Gesundheit dieser Menschen ihr wesentliches Kapital für Erwerbsteilhabe bildet, ist sie in besonderer Weise zu schützen“, resümiert Thomas Altenhöner.
 
Der direkte Zusammenhang zwischen prekärer Arbeit und der Gesundheit ist auch dem Förderer noch einmal deutlich geworden: „Die Beteiligung der HSBI am Projekt hat es uns zusätzlich ermöglicht, einen Einblick in bestehende Zusammenhänge zwischen prekärer Beschäftigung und der gesundheitlichen Situation zu gewinnen und somit Ansatzpunkte und Handlungsfelder in diesem Kontext aufdecken zu können“, stellt Bernhard Ulrich fest. 
 
Die Interviews mit den Betroffenen deck­ten auch zwei neue Aspekte auf, die eine Benachteiligung der prekär Beschäftigten verstärken können: Sprache und Bürokratie. So führt das Nichtverstehen der Anforderungen von Behörden häufiger zu Schwierigkeiten und bürokratischen Problemen. Auch ist zu vermuten, dass Arbeitsausbeutung bei mangelnden Sprachkenntnissen und Unkenntnis über das deutsche Behördensystem oder die eigenen Arbeitsrechte öfter verdeckt bleibt. 
 
Laut Thomas Altenhöner sollte „das Thema Gesundheit und seine Einflussfaktoren systematisch in den Beratungsprozess von prekär Beschäftigten integriert werden“. Zudem sollten die Angebote der Beratungsstellen Arbeit ausgeweitet und aktiv sowie in einfacher Sprache und mehrsprachig beworben werden. Aus ihren Erkenntnissen leitet die HSBI dabei als Handlungsempfehlung auch den Einsatz von aufsuchender Sozialarbeit ab, bevorzugt über niederschwellige Anlaufstellen der Communitys. Auf diesem Weg könne als erster Schritt der Kontakt zu den Betroffenen hergestellt werden. Dadurch würden weitere Schritte gegen Arbeitsausbeutung und zur Unterstützung Betroffener möglich. 

Wegweiser und Runder Tisch
 

Ein weiteres Ziel des Projekts war es, einen regionalen Wegweiser für Ratsuchende und Multiplikator*innen zu erarbeiten, in dem sämtliche Beratungsangebote zum Thema Arbeitsausbeutung aller kommunalen, landes- und bundesweiten Beratungsstellen aufgezeigt werden und auch Indikatoren, die helfen, Arbeitsausbeutung zu erkennen. Dieser, von der GAB erarbeitete Wegweiser wird im Sommer als Flyer veröffentlicht. Parallel übernahm die GAB die Moderation und Weiterentwicklung des „Runden Tisches prekäre Arbeit Bielefeld“, der schon zwei Jahre vor Projektbeginn aus der Taufe gehoben worden war. Mit ihm soll die Zusammenarbeit zwischen wichtigen Akteuren wie Zoll, Stadt Bielefeld (Sozialamt, Ausländerbehörde), Jobcenter, Bundesagentur für Arbeit optimiert und weiterentwickelt werden. Ziel war unter anderem die Abstimmung der Aufgabenfelder der einzelnen Akteur*innen aufeinander sowie der Abschluss einer Kooperationsvereinbarung. 
 
Der bestehende Runde Tisch wurde in das PABi-Projekt integriert und zeigte im Projektzeitraum eine positive Entwicklung. „Er bekam durch die verbesserten Kenntnisse der Berater*innen der BSA und durch die bilateralen Kontakte, die im Laufe der Zeit geknüpft wurden, immer mehr Substanz“, sagt Marike Tabor. Staatsanwaltschaft, Arbeitsschutz, Finanzverwaltung, Hauptzollamt und Polizei Herford sind mittlerweile feste Mitglieder. Zum erweiterten Netzwerk gehören kommunale, aber auch überregional agierende Beratungsstellen, wie zum Beispiel „Faire Mobilität“, ein bundesweites Beratungsnetzwerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
 
Über den Runden Tisch sei es gelungen, mehr Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit herzustellen, sagt Marike Tabor. Bei den alle zwei bis drei Monate stattfindenden Treffen, entwickelte man über kollegiale Fallbesprechungen Prozessketten für die Praxis und hielt sie in einem Leitfaden fest. „Prozessketten“ meint dabei Folgendes: Wie schon von der HSBI beschrieben, geht es zunächst darum, Zugang zu den betroffenen Menschen zu finden. Dann gilt es, sie über ihre rechtlichen Möglichkeiten aufzuklären und sie anschließend dazu zu motivieren, sich gegen Arbeitsausbeutung zur Wehr zu setzen. „Dazu braucht es speziell geschulte Fachkräfte, die in der Lage sind, arbeits- und sozialrechtliche Verstöße auch als solche zu erkennen, damit dann die BSA als Clearingstelle entscheiden kann, welche ermittelnde Behörde im jeweiligen Fall anzusprechen ist“, erklärt Marike Tabor. „Je nachdem, welche Tatbestandsmerkmale gegeben sind – Arbeitsausbeutung, Zwangsarbeit oder sogar Menschenhandel –, muss dann die zuständige Behörde angesprochen werden: der Zoll, der Arbeitsschutz, die Finanzverwaltung oder die Staatsanwaltschaft beziehungsweise die Polizei. Das kann man nur, wenn eine entsprechende Fachkompetenz vorhanden ist und gleichzeitig die betroffene Person, möglichst in ihrer Muttersprache, begleitet wird.“ 
 
Durch das Netzwerk „Runder Tisch“ gibt es mittlerweile für alle Fälle konkrete Ansprechpartner*innen bei den genannten Behörden. Hilfreich ist dabei eine Sprachmittler-Hotline, die beim Jobcenter Bielefeld eingerichtet wurde.

Leitfaden statt Kooperationsvereinbarung
 

Die ursprünglich vorgesehene Kooperationsvereinbarung zwischen den Partnern des Runden Tisches konnte nicht umgesetzt werden, weil das den ermittelnden Institutionen (Arbeitsschutz, Staatsanwaltschaft, Zoll) aus rechtlichen Gründen nicht möglich war. Stattdessen gibt es jetzt aber einen Leitfaden, der das Ineinandergreifen der verschiedenen Zuständigkeiten und die Aufgabenfelder festschreibt. Dadurch könne man nun endlich Handlungsoptionen für Netzwerkpartner, Arbeitnehmer*innen und Berater*innen im kommunalen Raum aufzeigen und zwar im Sinne von zivilrechtlichen Präventionsmaßnahmen und strafrechtlichem Opferschutz, stellt Marike Tabor fest. Diesen Opferschutz nennt sie als dritten Schritt, der umgesetzt werden müsse. Etwa dann, wenn die Person, die sich wehrt, vom Arbeitgeber gekündigt wird, und ihre Existenz bedroht ist. „Erst wenn die Existenz durch das Jobcenter weiter gesichert ist, ist die Person meistens auch aussagebereit, und das Ermittlungsverfahren bei der jeweiligen zuständigen Stelle kann in die Wege geleitet werden.“ 
 
Die Kooperationswege funktionieren durch PABi mittlerweile sehr gut. Über die Netzwerkarbeit konnten mehrere Fälle von Arbeitsausbeutung aufgedeckt werden, die jetzt von der Staatsanwaltschaft untersucht werden. Und ermittelnde Behörden greifen in diesen Fällen auf die Kompetenzen von Beratungsstellen zurück, um Opfer zu schützen. „Allein das würde ich als sehr großen Erfolg sehen“, sagt Marike Tabor, auch wenn sie in anderen Feldern wie der Umsetzung der im Aufenthaltsgesetz verankerten Bedenk- und Stabilisierungsfrist für die Menschen, die Opfer von Menschenhandel sind, oder der Regelung der Prozesskosten noch dringenden politisch-rechtlichen Handlungsbedarf sieht.

Konkreter Nutzen für die Betroffenen
 

Die konkreten positiven Effekte für die betroffenen Beschäftigten im Raum Bielefeld können sich auf jeden Fall sehen lassen: Ihnen konnte geholfen werden, ihre Rechte auf zivil- und strafrechtlicher Ebene durchzusetzen, Obdachlosigkeit konnte verhindert, Kinder eingeschult, die Existenzsicherung durch eingeforderte ausstehende Gelder gewährleistet werden. Als wesentlichen Erfolg nennt Marike Tabor außerdem die Anpassung der kommunalen Richtlinien zu den Kosten der Unterkunft. Die Tatbestandsmerkmale der Ausbeutung werden jetzt als Grund für einen notwendigen Umzug und damit verbundene höhere Mieten anerkannt. Das ist wichtig, wenn betroffene Beschäftigte in Wohnungen des Arbeitgebers untergebracht sind, und er ihnen, weil sie ihre Rechte gegen ihn durchsetzen, kündigt. 
 
„Wir konnten für die Betroffenen etwas bewirken“, stellt denn auch Bernhard Ulrich vom MAGS fest. „Das PABi Projekt zeigt, dass durch die enge Verzahnung und Abstimmung untereinander Fälle von Arbeitsausbeutung in der Region gemeinsam aufgedeckt und angegangen werden konnten. Für die Betroffenen wurden auf diese Weise schnelle und niederschwellige Hilfestellungen geleistet.“
 
Auch für Marike Tabor ist die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure im Bereich Aufenthaltsrecht, Sozialrecht und Arbeitsrecht, wie sie in Bielefeld durch den Runden Tisch aufgebaut werden konnte, der Schlüssel zum Erfolg. Darüber hinaus sei auf jeden Fall eine koordinierende Stelle nötig. 
 
Die wird es in Bielefeld in Person von Marike Tabor auch nach Ende des PABi-Projektes geben. Sie ist Anfang April 2023 als Geschäftsführerin zur Initiative für Beschäftigung OWL e. V. (IFB OWL) gewechselt, bleibt dem Runden Tisch aber als Moderatorin erhalten – aus Eigenmotivation, wie sie feststellt. Sie wünscht sich aber eine dauerhafte Finanzierung der Stelle und auch bessere Ressourcen für die Partner am Runden Tisch. Darüber hinaus hält sie Runde Tische und eigene Wegweiser für jede Region sowie den Aufbau einer Struktur für den regionalen und überregionalen Austausch und Wissenstransfer zum Thema Arbeitsausbeutung inklusive einer entsprechenden Koordination für dringend geboten. Es bleibt abzuwarten, ob all das umgesetzt werden kann. „Wir wollen die guten Ansätze aus Bielefeld nutzen und prüfen, wie die Zusammenarbeit in Nordrhein-Westfalen Schule machen kann“, verspricht zumindest Bernhard Ulrich vom MAGS. 
 
Ein Projektbericht mit Handlungsempfehlungen, soll gemeinsam mit dem erarbeiteten Wegweiser die Grundlage für den landesweiten Transfer der zentralen Erkenntnisse aus dem Projekt bilden. Die HSBI plant darüber hinaus eine Veröffentlichung des wissenschaftlichen Teils als Publikation und die Vorstellung auf einem Kongress im September. Außerdem sollen die Ergebnisse des PABi-Projekts im Rahmen des kollegialen Praxisaustausches im landesweiten Netzwerk gegen Arbeitsausbeutung im dritten Quartal 2023 präsentiert werden. 
 

Kontakte

GAB Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung mbH, Bielefeld
Marike Tabor
Tel.: 0160 1033611
marike.tabor@gab-bielefeld.de
Hochschule Bielefeld – University of Applied Sciences and Arts
Fachbereich Sozialwesen
Interaktion 1
Prof. Dr. Thomas Altenhöner
thomas.altenhoener@hsbi.de

Autor

Frank Stefan Krupop
Tel.: 02306 741093
frank_krupop@web.de

Ansprechpersonen in der G.I.B.

Lena Becher
Tel.: 02041 767251
l.becher@gib.nrw.de
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