Politik ist im besten Sinne Dienstleistung für die Gesellschaft. Im Zusammenhang mit der Pflege von kranken und alternden Menschen findet dieser Dienst an der Schnittstelle von Gesundheits-, Sozial- und Arbeitspolitik statt und hat vielfältige Interessen, Erwartungen und Bedürfnisse in Einklang zu bringen. Der Bedarf an Pflegekräften und an Lehrkräften für deren Ausbildung ist groß. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalens gab 2019 in ihrer „Berichterstattung Gesundheitsberufe“ die Zahl der offenen Vollzeitstellen in der Pflege mit über 23.000 an. Zugleich fehlten mehr als 900 Pädagog*innen an den ausbildenden Schulen des Gesundheitswesens, allein der eminent wichtige Bereich der Pflegeausbildung weist 300 offene Stellen aus. Um die Gesellschaft ausreichend mit Pflegekräften zu versorgen, zielen die Bemühungen seit einiger Zeit über die Ausbildung und Qualifizierung im Inland hinaus. Auch das Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland soll dem Mangel an Pflegenden hierzulande begegnen.
Vor ihrem möglichen Einsatz sind allerdings viele Schritte zu beachten. Bei Pflegetätigkeiten in Deutschland handelt es sich um sogenannte reglementierte Berufe. Menschen mit diesem Berufswunsch zunächst nach besonderen Standards auszubilden und zu qualifizieren, ist gesetzlich festgelegt. Auch Jörg Nächilla betont die Notwendigkeit. Der Bildungsberater bei der Recklinghäuser Arbeitsförderungsinitiative Re/init sagt: „Der Staat muss hinschauen, dass Pflegekräfte ein erforderliches Niveau erreichen und halten. In der Pflege ist dies besonders wichtig und damit anders als bei nicht reglementierten Berufen, die man auch nach Probearbeit oder Praktikum ausüben kann.“ Nächilla hat sich in seinen inzwischen 15 Jahren bei „Re/init“ auch für die Beratung im Rahmen des Landesprogramms „Perspektiven im Erwerbsleben“ (PiE) weiterqualifiziert und den Spezialteil „Fachberatung und Anerkennung“ absolviert. Dies befähigt ihn, auch zum Thema Anerkennung von im Ausland erworbener Schul- und Berufsabschlüsse zu beraten.
In Nordrhein-Westfalen hat die Landesregierung es sich zur Aufgabe gemacht, die Prozesse zur Anerkennung ausländischer Pflegekräfte zu vereinheitlichen und zu beschleunigen. Seit Oktober 2021 liegt die Zuständigkeit für die Anerkennung nicht mehr bei den einzelnen Bezirksregierungen, sondern bei der neu eingerichteten Zentralen Anerkennungsstelle für Gesundheitsberufe (ZAG) der Bezirksregierung Münster.
Anpassungslehrgänge berufsbegleitend ermöglichen
Dort einen Antrag auf Arbeitserlaubnis zu stellen ist nur ein Glied in einer Kette von erforderlichen Schritten. Und es ist vielfach nicht der letzte Vorgang. Denn die Erfahrung von Jörg Nächilla zeigt, welche Bedeutung dem Ausbildungssystem auch im Falle ausländischer Pflegekräfte zukommt: Ein Viertel der bisher von ihm betreuten ausländischen Fachkräfte aus Gesundheitsberufen erhielt die sofortige Anerkennung und damit den Zutritt zum Arbeitsmarkt. Alle anderen sind verpflichtet, zunächst Anpassungsmaßnahmen zu durchlaufen, um ihre fachlichen Kenntnisse auf ein Niveau zu heben, das dem deutschen Ausbildungsstandard gleichwertig ist. Gewährleisten sollen dies wiederum die staatlich anerkannten Pflegeschulen, die die Interessierten entweder direkt auf eine Kenntnisprüfung vorbereiten oder zunächst in mehrwöchigen Anpassungslehrgängen nachqualifizieren.
Für diesen Bildungsaspekt steht stellvertretend Eva Maria Müller. Sie arbeitet im Caritasverband für das Erzbistum Paderborn in der Gesundheits- und Altenhilfe. Ihr Arbeitgeber bildet das Dach, unter dem über 200 katholische Träger der Alten- und Gesundheitshilfe zu Hause sind. Der Spitzenverband vertritt sowohl Pflegeeinrichtungen und katholische Krankenhäuser als auch 18 Pflegeschulen. Eva Maria Müller weiß um die Bedeutung der Pflegeschulen, die einerseits die inländische Ausbildungsoffensive im Pflegesektor mittragen sollen. Andererseits obliegt es ihnen, die Defizite der ausländischen Kräfte mit modular aufgebauten Angeboten auszugleichen. „Wir treiben die Pflegeausbildung intensiv voran“, sagt sie, allerdings seien aktuell zu wenige Lehrkräfte im System vorhanden. Ihrer Meinung nach müsse das Ziel sein, mehr Pflegekräfte pädagogisch zu qualifizieren, um mehr Menschen zu Pflegeassistenz- oder Pflegefachkräften auszubilden. Eine Idee: „Wenn das Land hier sinnvolle Quereinstiege ermöglicht, dann kommen wir voran.“
Nach Jörg Nächillas Erfahrung mit den Ratsuchenden stecken viele Zugewanderte in einer Zwickmühle. „Ich komme häufig mit Menschen in Berührung, die in ihrem Heimatland den Pflegeberuf erlernt haben und möglichst nicht allzu lange warten wollen, um hier in Deutschland in ihrem Beruf tätig zu werden.“ Sofern Anpassungslehrgänge nötig würden, bedeute dies zunächst eine unerwünschte Warteschleife. „Eine Hilfe wäre es, mehr Angebote zu berufsbegleitenden Anpassungslehrgängen zu schaffen“, so Nächilla. Diese ließen sich zum Beispiel an Wochenenden realisieren und könnten es so erlauben, Geldverdienen und Qualifikation miteinander zu vereinbaren. Eva Maria Müller hält große Stücke auf die Anpassungslehrgänge; für Beratende und Pflegeschule wünscht sie sich in diesem Bereich eine langfristige Unterstützung.
Kompetenzen stärker gewichten
Grundsätzlich unterscheidet der Gesetzgeber ausländische Arbeitskräfte nach ihren Herkunftsstaaten. Für Menschen aus der Europäischen Union, dem Europäischen Wirtschaftsraum und der Schweiz besteht im günstigsten Fall die Möglichkeit zur automatischen Anerkennung des Berufsabschlusses. Für Antragstellende, die nicht automatisch anerkannt werden und noch Defizite aufweisen, sehen die Regularien eine rein praktische Eignungsprüfung vor. Für Menschen aus Drittstaaten ist der Ausbildungsvergleich obligatorisch, aktuell ergibt dieser in der Mehrzahl der Fälle keinen gleichwertigen Stand. Dann steht der direkte Weg zu einer Kenntnisprüfung, der anders als die Eignungsprüfung aus einer mündlichen und praktischen Prüfung besteht, oder der Umweg über Anpassungslehrgänge offen. Eva Maria Müller hält die Eignungs- und Kenntnisprüfungen für „unheimlich wichtig“. Die Pflegeexpertin setzt darauf, dass die Prüfungen besonders kompetenzorientiert erfolgen, was im Deutschen (DQR) und Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) zur Vergleichbarkeit von Abschlüssen ebenfalls angelegt ist. „Nonformales und informelles Wissen ist auch unbedingt anzuerkennen, um die Prozesse verkürzen zu können“, so Eva Maria Müller. Eine Erleichterung verspricht sie sich davon, dass die Pflegeausbildung seit Oktober 2022 generalistisch erfolgt. Gesundheits- und Krankenpflege beziehungsweise Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sind seither zusammengeführt, erst im dritten Ausbildungsjahr ist eine Vertiefung vorgesehen. Eva Maria Müller glaubt, dass davon auch die ZAG in Münster profitieren werde, die je nach Zeitpunkt der Antragstellung die Ausbildungen noch auf der Grundlage des alten Pflegegesetzes vergleichen musste.
Ein Hindernis für einen schnelleren Vergleich von Berufsabschlüssen im Pflegebereich besteht darin, dass die Ausbildung in den verschiedenen Drittstaaten teils erhebliche Unterschiede aufweist. Das führt bei Behörden und Beratenden zu enormem Arbeits- und Rechercheaufwand. Zwar hat die ZAG es sich zum Ziel gesetzt, binnen vier Wochen nach Einreichen des Antrags dessen Eingang inklusive Mitteilung über die Vollständigkeit der Unterlagen zu bestätigen. Der Vergleich des Ausbildungsstandards erfolgt allerdings erst im nächsten Schritt. Für Jörg Nächilla fühlt sich die Abgabe der Dokumente häufig wie ein „Antrag ins Blaue hinein“ an. Seine Idealvorstellung wäre eine Datenbank auch für die nicht-akademischen Heilberufe, unter die die Pflegeberufe ebenso fallen wie die Gesundheitsfachberufe in den Bereichen Logopädie, Ergotherapie, medizinisch-technischer Assistenz für Radiologie oder Veterinärmedizin sowie pharmazeutisch-technische Assistenzberufe. Von einer solchen Datenbank, die es international für universitäre Abschlüsse gibt, verspricht Nächilla sich einige Vorteile. „Wenn die Daten gesammelt und zusammengestellt sind, dann erhalten die Menschen aus den jeweiligen Drittstaaten immerhin einen kleinen Ausblick, worauf ihr Antrag hinausläuft.“ Mitarbeitende der Behörden erlebt Jörg Nächilla als „dankbar“, wenn gewisse Vorarbeiten in diesem Bereich von den Anerkennungsberatenden bereits geleistet wurden.
Sprachkenntnisse noch oft eine Hürde
Weiter schlägt Jörg Nächilla eine Orientierungshilfe in Form einer Richtlinie vor. Sie könnte festlegen, ab welchem Grad der Ausbildung eine gutachterliche Prüfung ausreicht, wann sich die Vorbereitung auf eine mündliche und praktische Kenntnisprüfung empfiehlt oder wann die ausländischen Pflegekräfte besser eine komplette Ausbildung zur Assistenzkraft (ein Jahr) oder Fachkraft (drei Jahre) durchlaufen. Je nach absolvierten Stunden in der Ausbildung oder mehrjähriger Praxiserfahrung im Herkunftsland würde in der Anerkennungsberatung dann „mehr Klarheit bestehen, in welche Richtung wir beraten sollen.“ Unabhängig vom Ausbildungsstand empfiehlt der Bildungsberater eine einjährige Ausbildung in einer Pflegefachschule immer dann, wenn die Deutschkenntnisse noch nicht ausreichend sind. Gefordert ist für eine Berufserlaubnis das Niveau B2. „In einer einjährigen Ausbildung zur Pflegefachassistenz lässt sich so fast automatisch Deutsch lernen und dabei auch die Fachbegriffe“, sagt Jörg Nächilla.
Ein wirksamer Anerkennungsprozess, so Eva Maria Müller, nehme auch die gesundheitliche Eignung der Antragstellenden frühzeitig in den Blick. Das formalistische Prüfen der Dokumente, das Anrechnungsverfahren und Feststellen der Gleichwertigkeit würden in der ZAG perspektivisch immer effizienter erfolgen. Auch die Anpassungslehrgänge etwa in Pflegeschulen funktionierten nach ihrem Eindruck gut, weil der Umfang der fachlichen Nachqualifizierung entsprechend bekannt sei. Ob die Menschen aber in einer psychischen und physischen Verfassung seien, die ihnen das Arbeiten überhaupt ermöglicht, stelle erst ein Amtsarzt in Deutschland fest. Dabei gelte es, für Pflegekräfte, die aus Krisengebieten übersiedeln, bereits im Vorfeld über unterstützende Maßnahmen nachzudenken. Eva Maria Müller sieht hier die neue Heimat in der Pflicht. „Qualifizierung allein reicht nicht. Es ist eine Art Wohlfühlprogramm für die Menschen nötig, die aus dem Ausland kommen.“ Gute Ansätze für betriebliche und soziale Integration gebe es beispielsweise im kirchlichen Kontext. So schaffe etwa das Kolpingwerk über soziale Netzwerke eine Anbindung der Pflegekräfte zur jeweiligen Heimatgemeinde.
Patenschaftsmodelle seien allerdings in der Regel ehrenamtlich getragen. Hier wünscht Eva Maria Müller sich eine institutionalisierte Förderung, um den Pflegekräften zu signalisieren, dass sie mehr als nur willkommene Arbeitskräfte seien. Derartige Patenkonzepte könnten ferner auch das Verständnis untereinander im Pflegebetrieb fördern, glaubt die Pflegeexpertin des Caritasverbands. Aufgrund der unterschiedlichen Ausbildungsniveaus im Vergleich zu Deutschland komme es nicht selten zu Irritationen unter Kolleginnen und Kollegen. Sie wisse von Situationen, in denen eine aus Deutschland stammende Pflegekraft sich wundere, warum die neue, meist über einen Studienabschluss verfügende Kraft einfachste Pflegetätigkeiten nicht übernehme. Umgekehrt fühle sich eine zugewanderte Pflegekraft teils auf dem Niveau einer Auszubildenden, obwohl sie viel höher qualifiziert und etwa vornehmlich mit Planungsaufgaben betraut gewesen sei. „Solche Vorbehalte muss man vor Ort abbauen“, sagt Eva Maria Müller, „dafür ist Unterstützung nötig, weil dies Prozesse des Teambuildings sind und entsprechend Zeit brauchen.“
Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern
Nicht zuletzt seien begleitende Projekte zur sozialen Eingliederung von Pflegekräften aus dem Ausland auch im ureigenen Interesse der Gesellschaft. Schließlich stehe Deutschland mit seiner Suche nach ausländischen Pflegekräften nicht allein da, sondern im Wettbewerb. „Da ist ein Perspektivwechsel dringend geboten. Wir müssen uns die Frage stellen, was wir selbst im Ausland von einem möglichen Arbeitgeber und dem Gesundheitssystem erwarten würden, bevor wir uns für den Staat entscheiden“, sagt Eva Maria Müller. Das berührt ganz grundsätzliche Fragen des Stellenwerts der Pflege und der Wertschätzung für Pflegende in Deutschland. Jörg Nächilla möchte das nicht unbedingt nur mit Blick auf den Gehaltszettel diskutieren. „Beim Geld gehen die Meinungen erwartbar immer auseinander, also ob ein Aufschlag nun ausreicht oder nicht.“ Wichtiger erscheinen dem Bildungsberater andere Anreize, die die Arbeitsbedingungen spürbar verbessern. Eine Vier-Tage-Woche, mehr Urlaub, Freizeitausgleich oder flexiblere Arbeitsmodelle „sehe ich als gute Möglichkeiten, um die Attraktivität des Berufs zu steigern.“
Das ist Wasser auf die Mühlen von Eva Maria Müller, die sagt, sich seit gut einem Jahrzehnt politisch dafür einzusetzen, dass die Pflegeausbildung in NRW nachhaltig refinanziert werde. Verstärkt auszubilden statt nur im Ausland anzuwerben sei ohnehin geboten. Schließlich weise der internationale Pflegeverband ICN darauf hin, dass in der kommenden Dekade bis zu 13 Millionen Pflegekräfte weltweit fehlen werden. Insofern, sagt Eva Maria Müller, seien nachhaltige Ansätze wie der der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit und der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit zu begrüßen. Sie werben im „Triple-Win-Programm“ nur Fachkräfte in solchen Drittstaaten an, die selbst über ein Überangebot an gut ausgebildeten Fachkräften verfügen. Die Rekrutierung von ausländischen Pflegekräften müsse ethisch reflektiert sein und könne allenfalls dazu beitragen, das Fachkräfteproblem in Deutschland abzumildern; grundsätzlich lösen könne sie es nicht, meint Eva Maria Müller. Mit spürbaren Verbesserungen der Arbeitsbedingungen biete sich die Chance, ein großes Potenzial im Inland zu heben. „Wir könnten etwa 300.000 Menschen für die Pflege zurückgewinnen, wenn wir die Strukturen im Berufsfeld verbessern“, sagt sie mit Verweis auf die entsprechende Studie „Ich pflege wieder, wenn …“ der Hans-Böckler-Stiftung. Die Integration ausländischer Fachkräfte in das deutsche Pflegesystem sei insofern als „ein Baustein“ neben anderen zu betrachten.
Kontakte
Recklinghäuser Arbeitsförderungsinitiative RE/init e. V.
Jörg Nächilla, Bildungsberater
Tel.: 02361 3021220
joerg.naechilla@reinit.de Autor
Ansprechpersonen in der G.I.B.