Genügt die Menge zur Verfügung stehender Güter oder die Höhe des Einkommens, um den gesellschaftlichen und individuellen Wohlstand zu messen? Nein, sagt der indische Philosoph und Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen. Für ihn ist nicht nur der Besitz oder die Verfügbarkeit von Ressourcen entscheidend, sondern auch die Frage, ob eine Person in der Lage ist, sie zu nutzen.
Deshalb unterscheidet er zwischen den Handlungsmöglichkeiten, den „Functionings“, einer Person und den von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Teilhabe- und Verwirklichungsmöglichkeiten, den „Capabilities“. Ein von ihm selbst genanntes und wegen seiner Eingängigkeit oft kolportiertes Beispiel dafür ist das Fahrrad, das nur dann die Funktion „Mobilität“ erfüllt, wenn eine Infrastruktur mit Radwegen vorhanden ist, einer Person das Fahrzeug zur Verfügung steht und sie zugleich die Fähigkeit hat, das Rad zu fahren.
„Konstitutiv für das Wohlergehen einer Person“ ist für Amartya Sen also ein mehrdimensionales Gefüge aus Aktivitäten, Zuständen und Fähigkeiten, die den Handlungsspielraum eines Menschen bestimmen sowie den Umfang seiner Teilhabe- und Verwirklichungschancen, um „ein Leben führen zu können, für das er sich mit guten Gründen entscheiden konnte und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt.“ Reichtum korrespondiert demnach mit einem hohen Maß an Verwirklichungschancen, während Armut aufgrund des daraus resultierenden eingeschränkten Handlungsspielraums bei der Wahl zwischen verschiedenen Lebenssituationen einen Mangel an Verwirklichungschancen bedeutet.
Teilhabe: Von der UN-BRK ins deutsche Sozialrecht
Weltweit bekannt geworden ist der Ansatz des Ökonomen unter dem Begriff „Capability Approach“. Konkretisierend ergänzt hat das Konzept später Martha Nussbaum, Philosophin und Professorin an der Universität Chicago, mit der Benennung von zentralen politischen, ökonomischen oder sozialen Chancen, die gesellschaftlich bedingt sind und darüber entscheiden, inwiefern individuelle Potenziale in Verwirklichungschancen umgewandelt werden können.
Zu den bestimmenden Faktoren zählen beispielsweise der Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem sowie zu angemessenem Wohnraum, aber auch die Integration in Arbeit oder die soziale Sicherheit, wobei die Liste nach Ansicht der Wissenschaftlerin durchaus variabel sein kann, denn Menschen können unterschiedlicher Meinung sein, was ein „gutes Leben“ ist. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Freiheitsgrad ihrer Entscheidungen, denn zwischen freiwilligem Fasten und erzwungenem Hungern beispielsweise besteht, leicht ersichtlich, ein fundamentaler Unterschied. Zu differenzieren ist auch zwischen Teilhabe, die am handelnden Subjekt ansetzt, und Inklusion, die sich vornehmlich auf die Auswirkungen gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse auf Menschen bezieht.
Über die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK), die mit ihrem komplexen bio-psycho-sozialen Modell unter anderem das Prinzip der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen betont, ist der Begriff „Teilhabe“ längst ins deutsche Sozialrecht eingewandert und in Sozialgesetzbüchern als Legal-Begriff etabliert. So auch im SGB II. Auch der Begriff der Verwirklichungschancen ist bereits vor Jahren in Deutschland angekommen. Erstmals offiziell aufgegriffen hat ihn 2005 die damalige Bundesregierung im Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht. Ihre Begründung: Er weite den Blick „von einer statischen auf eine entwicklungsorientierte Betrachtung von Existenzsicherung im Zeitverlauf und auf die Berücksichtigung von aktivierenden Elementen, mit denen der Sozialstaat Teilhabe- und Verwirklichungschancen bietet.“
Reform des SGB II
Klar ist: Ausbildung und Arbeit stärken die Teilhabe von Menschen. So kommt etwa die von Prof. Martin Brussig vom Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen koordinierte Evaluation des Bundesprogramms „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ zu dem Fazit, dass sich auch ein Jahr nach der Teilnahme am beschäftigungsbegleitenden Programm „positive Effekte auf die Indikatoren Aktivität und Mobilität, Selbstvertrauen, Softskills, Soziales Netzwerk und Gesundheitszustand“ ergeben. Bei Älteren, gesundheitlich Eingeschränkten und Personen mit sehr langem Leistungsbezug sind „diese Wirkungen überdurchschnittlich ausgeprägt“. Von ähnlichen Bewertungen gehen auch das Teilhabechancengesetz und viele migrationspolitische Vorhaben aus. So stärkt eine regelmäßige berufliche Tätigkeit Selbstwirksamkeit und soziale Kontakte, zudem lässt sich am Arbeitsort beispielsweise Sprachpraxis im alltags- und berufssprachlichen Bereich erwerben.
Doch in vielen Fällen setzt die Aufnahme von Arbeit – umgekehrt also – zunächst die Förderung der sozialen Teilhabe und somit der Beschäftigungsfähigkeit voraus. Das kann geschehen, indem etwa gesundheitliche Einschränkungen, prekäre Wohnverhältnisse oder soziale Isolation, die einer Arbeitsaufnahme und sozialer Teilhabe entgegenstehen, prioritär abgeklärt und abgemildert werden. Auf dieser Grundlage kann die Heranführung an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt häufig besser gelingen – eine Überlegung, von der sich offensichtlich die gegenwärtige Bundesregierung inspirieren lässt. Sie verspricht sich von einem Strategiewechsel in der Beratungs- und Vermittlungspraxis der Jobcenter sowie durch die Einführung eines Bürgergelds als Ersatz für „Hartz IV“ mehr soziale Teilhabe mit dem Ziel einer nachhaltigen Arbeitsmarktintegration. Bei der von ihr anvisierten Neuausrichtung der Beratungs- und Vermittlungsprozesse werden also soziale Teilhabe und materielle Sicherheit zusammengedacht.
So wird im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des SGB II der „Vermittlungsvorrang“, der auf eine rasche Vermittlung in Erwerbsarbeit setzt, abgeschafft. Zudem sollen Bürger*innen und Verwaltung noch stärker als bisher auf Augenhöhe kooperieren und ein Vertrauensverhältnis herstellen. Mehr denn je gefragt ist eine „Koproduktion“ zwischen Integrationsfachkräften und Leistungsbeziehenden. Die bisherige Eingliederungsvereinbarung, die auf schnelle Vermittlung in Arbeit ausgerichtet war, wird durch einen „Kooperationsplan“ ersetzt. Er soll in klarer und verständlicher Sprache die gemeinsam entwickelte Eingliederungsstrategie dokumentieren. An ihn sind weniger rechtliche Folgen geknüpft als an die ehemalige Eingliederungsvereinbarung. Zwar bleiben die sanktionsbewehrten bzw. leistungsminderungsrelevanten Mitwirkungspflichten erhalten, werden aber abgeschwächt. Mit Erstellung des Kooperationsplans beginnt eine sechsmonatige „Vertrauenszeit“.
Zunächst soll laut § 15 SGB II unter dem Begriff „Potenzialanalyse“ ein Kompetenzermittlungsverfahren durchgeführt werden, das die Möglichkeiten der Menschen, also ihre Stärken und Entwicklungsbedarfe, in den Mittelpunkt stellt. Des Weiteren sollen Unterstützungsleistungen zur sozialen Teilhabe und die Reduktion psychosozialer Beeinträchtigungen sowie Maßnahmen zur Qualifizierung im Vordergrund stehen, das heißt, die Entwicklung des Humankapitals in Form von Ausbildungen, Weiterbildungen oder Umschulungen: „Um weitere Anreize zu schaffen, Geringqualifizierte auf dem Weg zu einer abgeschlossenen Berufsausbildung zu unterstützen und ihnen damit den Zugang zum Fachkräftearbeitsmarkt und zu den am Arbeitsmarkt besonders nachgefragten Berufen zu öffnen, erhalten Teilnehmende an einer berufsabschlussbezogenen Weiterbildung im SGB II und SGB III künftig ein monatliches Weiterbildungsgeld in Höhe von 150 Euro, wenn sie arbeitslos sind oder als Beschäftigte aufstockende SGB-II-Leistungen beziehen.“
Die Devise „train first“ ersetzt oder ergänzt zumindest das Motto „work first“. Die Politik verspricht sich davon mehr Stabilität und Nachhaltigkeit bei den Beschäftigungsverhältnissen. Zudem sollte laut Koalitionsvereinbarung die freie Förderung nach § 16f SGB II an Bedeutung gewinnen. So können Jobcenter zum Beispiel die Mitgliedschaft von Leistungsbeziehenden in Sport- und Kulturvereinen finanzieren und damit die soziale Teilhabe intensivieren, zumal neue soziale Kontakte zumindest indirekt Bezüge zur Arbeitswelt herstellen können.
Vom Aktivierungs- zum Teilhabeparadigma
Nach Auffassung von Dr. Peter Bartelheimer, ehemaliger Senior Researcher beim Soziologischen Forschungsinstitut an der Universität Göttingen, ist die in der Koalitionsvereinbarung angekündigte Reform des SGB II überfällig. Für ihn bietet sich Teilhabe als „Bewertungsmaßstab für die sozioökonomische Entwicklung von Gesellschaften an, deren Zielsystem sich an individuellen Entfaltungsmöglichkeiten orientiert.“ Auch für ihn ergibt sich Teilhabe aus dem Zusammenspiel zur Verfügung stehender Ressourcen sowie persönlicher und gesellschaftlicher Bedingungen, wobei zu berücksichtigen ist, dass etwa ein Mensch mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung einen höheren Bedarf an Unterstützung oder unterstützenden Gütern hat als eine Person ohne diese Einschränkung.
Dabei unterscheidet Peter Bartelheimer vier Formen der gesellschaftlichen Teilhabe. Erstens: „Erwerbsarbeit“ mit dem Teilhabeergebnis Erwerbsbeteiligung und Erwerbseinkommen. Zweitens: „Soziale Nahbeziehungen, informelle Arbeit“ mit dem Teilhabeergebnis „Netzwerke sozialer Nahbeziehungen beziehungsweise soziale Isolation oder gegenseitige Hilfe in Form unentgeltlicher Arbeit“. Drittens: „Bürgerliche, politische, soziale Rechte“ mit dem Teilhabeergebnis „Bürgerstatus, politische Partizipation, Transfereinkommen, soziale Dienstleistungen“. Viertens „Bildung, Kultur“ mit dem Teilhabeergebnis „Qualifikation und Werteorientierung“.
Die Nähe dieses Konzepts zum „Capability Approach“ ist unübersehbar – im Gegensatz zum gegenwärtigen SGB II. Hier konstatiert der Wissenschaftler einen Grundkonflikt zwischen dem Teilhabe- und dem Aktivierungsparadigma. Nach seiner Deutung besagt das Aktivierungsparadigma, dass die Gewährleistung von Beschäftigungsfähigkeit allein in der persönlichen Verantwortung der Einzelnen liegt. Auf eine eingeschränkte Beschäftigungsfähigkeit reagieren Jobcenter in der Regel mit der Suche nach den angeblich dafür verantwortlichen persönlichen Defiziten. Doch die individuelle Defizitzuschreibung beim Aktivierungsparadigma führt rasch zum Vorwurf mangelnder Motivation oder überhöhter Lohnerwartungen angesichts der angeblich geringeren Produktivität. Das unterstellte Motivationsdefizit wiederum hat zur Folge, dass Leistungsansprüche abhängig gemacht werden von einem bestimmten individuellen Erwerbsverhalten. Peter Bartelheimer: „Das wird dann vertraglich oder pseudovertraglich festgehalten in der Eingliederungsvereinbarung, die laut Koalitionsvereinbarung jetzt Kooperationsvertrag heißen soll und ursprünglich sogar als Teilhabevereinbarung diskutiert worden ist.“
Das aber verletzt nach seiner Ansicht zwei Grundvoraussetzungen des Capability-Ansatzes, der grundsätzlich von einer Wechselbeziehung zwischen persönlichen und strukturellen Bedingungen ausgeht, ein Problem liegt also nie an der Person allein. Strukturell missachtet wird nach seiner Meinung auch die Idee der Handlungsfreiheit im Leistungsbezug: „Das ganze System beruht darauf, dass ein Rechtsanspruch hier nur ein bedingter Rechtsanspruch ist, und zwar bedingt durch die vom Jobcenter festgelegten Verhaltensanforderungen, gerne auch Mitwirkungspflichten genannt.“
Dass die Politik jetzt verstärkt über Teilhabe reflektiert, schreibt der Wissenschaftler auch der Tatsache zu, „dass es um das Aktivierungsparadigma inzwischen sehr schlecht steht. Die Begeisterung ist dahin, es hat sich gezeigt, dass man mit dem schlichten Aktivierungsdenken gar nicht so viel erreicht und dass in vielen Fällen der Erwerbstätigkeit komplexe Problemlagen im Weg stehen, die zunächst bearbeitet werden müssen. Die wenigsten Leute sind komplett inaktiv. Im Gegenteil: Die meisten haben alle Hände voll zu tun, ihr Leben zu meistern. Deswegen bewegt sich das SGB II vom Aktivierungsparadigma weg in Richtung auf ein neues Leitbild, das gerne das Teilhabeparadigma sein kann.“ Für ihn kommt es jetzt darauf an, „die Spuren des Aktivierungsparadigmas im SGB II zu tilgen“ und das deute sich mit der Einführung des Bürgergelds an.
Vollständig in der Welt der Teilhabe angekommen wäre das SGB II seines Erachtens aber erst dann, wenn es anerkennen würde, dass es neben der Erwerbsarbeit viele ebenso wertvolle Teilhabebereiche auch für Menschen in der Grundsicherung gibt: „Es geht darum, das SGB II zu öffnen für die gesamte Teilhabe. Mittellosigkeit oder eine zu geringe Mittelausstattung ist eine zentrale Teilhabeeinschränkung im Grundsicherungsbereich.“ Bezogen auf das SGB II aber sei zunächst sicherzustellen, „dass die Leistung regelmäßig und sicher kommt und nicht jeden Monat ein anderer Bescheid, der kaum zu verstehen ist und Rückzahlungsforderungen oder die Information über die eingeschränkte Übernahme der Kosten der Unterkunft enthält.“
Zu bedenken sei zudem, dass sich die Mindestanforderungen an Wohnraum oder an Heizung „nicht auf Grundsicherungsniveau herunterskalieren lassen“, weshalb ja zum Beispiel im Bildungs- und Teilhabepaket zu Recht auch die vollen Kosten einer Klassenfahrt übernommen werden, denn: „Ein Kind kann an der Klassenfahrt nach Rom nur teilnehmen, wenn die Kosten für die Fahrt nach Rom übernommen werden und nicht nur die bis Castrop-Rauxel.“
Strukturelle Neuausrichtung
Gekoppelt sein solle ein auf Teilhabe orientierter Paradigmenwechsel im SGB II nach Ansicht von Peter Bartelheimer unter anderem durch eine Aufhebung der strikten Trennung zwischen dem Leistungsbereich auf der einen und dem Bereich Markt und Integration beziehungsweise dem Fallmanagement in den Jobcentern auf der anderen Seite. Nach seiner Einschätzung verfügt der Leistungsbereich nicht selten über umfassendere Informationen und Einsichten in die Lebenslagen des Grundsicherungsbeziehenden und seines Haushalts, „weil die Integrationsfachkräfte nur in den beschränkten Ausschnitten die Lebenslagen kennen, die sie erfragen oder ihnen in den Gesprächen offengelegt werden.“ Deshalb bietet sich an, in gemeinsamen Teams zusammenzuarbeiten. Das ist in manchen Jobcentern bereits realisiert.
Wie Peter Bartelheimer betont, bedeutet eine teilhabeorientierte Arbeitsweise der Integrationsfachkräfte Einzelfallarbeit. Sie beginnt damit, die Teilhabeeinschränkungen im konkreten Fall herauszufinden und anschließend geeignete Unterstützung zu entwickeln, um die Teilhabeeinschränkungen zu bearbeiten. Analog zum Capability Approach wären hier nicht nur die persönlichen Bedingungen, sondern auch die strukturellen Barrieren anzugehen und im Sinne der Leistungsberechtigten ebenso gegenüber Dritten aktiv zu werden.
Teilhabeorientiertes Arbeiten impliziere zudem, die Handlungsfreiheit der Personen zu respektieren, auch dann, wenn psychische oder kognitive Beeinträchtigungen deren Handlungsfreiheit beeinträchtigen: „Die Handlungsfreiheit muss immer handlungsleitendes Ziel der Fachkräfte sein, denn die gefundenen Lösungen müssen von den Leistungsberechtigten persönlich umgesetzt und wertgeschätzt werden können.“ Um ihnen neue Möglichkeitsräume zu eröffnen, bedürfe es einer eigenen Sicht der Fachkräfte auf den Fall. Schon deshalb, weil – im Capability Approach „Präferenzanpassung“ genannt – Menschen mitunter resignieren und bestimmte Möglichkeiten für sich gar nicht mehr erkennen. Werden sie lediglich nach ihren Vorstellungen gefragt, denken sie eventuell in zu engen Grenzen.
Die Eröffnung von Möglichkeiten und die Unterstützung bei der persönlichen Orientierung und Entscheidung seien keine einmaligen Akte, sondern ein längerer Prozess, der eine ständige Rückkoppelung erfordere. Nur so könnten sich Integrationsfachkräfte vergewissern, dass sich die Menschen auch „mit guten Gründen“ für einen bestimmten Weg entscheiden, wobei sie ihre Entscheidung jederzeit erneuern können: „Die eigene Fallsicht und den Respekt vor den Entscheidungsrechten des Gegenübers stets miteinander zu kombinieren, ist eine fachliche Herausforderung.“
Aufsuchende Arbeit und ganzheitliches Coaching
Teilhabeorientierte Arbeit bedeutet mitunter auch „weg vom Schreibtisch und hin zur aufsuchenden Arbeit“, denn Beratung allein genügt nicht. Genauso gefragt ist praktische Unterstützung, Begleitung, Assistenz und bei Bedarf auch stellvertretendes Handeln. Zum Beispiel selbst einen Arzttermin zu vereinbaren, wenn die hilfebedürftige Person allein dazu nicht in der Lage ist, und zugleich die Möglichkeit eröffnen, dabei zuzuschauen, um zu lernen, wie so etwas funktioniert. „Also nicht nur verweisend zu arbeiten, denn das ist selten eine gute Lösung“, genauso wie ein „angebotsorientiertes Arbeiten“, das sich auf einen vorliegenden, begrenzten Katalog an Unterstützungsangeboten beschränkt.
Doch ein so verstandenes teilhabeorientiertes Arbeiten, so fürchtet Peter Bartelheimer, ist oft nicht vereinbar mit standardisierten Geschäftsprozessen, mit Betreuungs- und Kontaktdichtekonzepten, mit den Fallzahlen und dem Betreuungsschlüssel der Fachkräfte, die in vielen Jobcentern zu finden sind: „Ein Paradigmenwechsel auf dem Papier genügt nicht, sondern es braucht auch einen Strukturwandel in der Organisation der Arbeitsmarktförderung.“
Mit der Einführung des Bürgergelds und der Abschwächung des Vermittlungsvorrangs ergeben sich, so seine Hoffnung, günstigere Bedingungen für das Teilhabemodell. Dazu gehöre, dass in einer bestimmten Situation verschiedene Optionen in der Lebensführung unter Teilhabegesichtspunkten als gleichwertig anzusehen sind. So kann eine Ausbildung individuell wertvoller sein als eine schnelle Arbeitsmarktintegration, auch wenn etwa Jugendliche mit Migrationshintergrund tendenziell lieber arbeiten und Geld verdienen wollen. Doch das bildet sich in der gegenwärtigen Zielsteuerung der Jobcenter meist nicht ab. Insofern liegt in der Relativierung des Vermittlungsvorrangs eine große Chance.
Auch das ab Juli 2023 umzusetzende ganzheitliche Coaching nach § 16 k SGB II kann eine Chance sein, allerdings nur, wenn ihm ein fachliches Konzept unterlegt wird, denn „auch Coaching enthält wieder sehr direktive Elemente“, obwohl es eigentlich ein Ansatz ist, bei dem es darum geht, selbstgesteuert und selbstintendiert persönliche und berufliche Weiterentwicklung voranzutreiben. Zum Glück sei dieses Coaching jetzt im Bürgergeldgesetz nicht sanktionsbewehrt, jeder kann sich selbst freiwillig dafür entscheiden. Auch teilhabeorientierte Beratung funktioniert nur außerhalb von Zwangskontexten. Kurzum: „Zum Repertoire einer Integrationsfachkraft gehört situativ das schnelle Matching, die schnelle Vermittlung genauso wie Organisation der Assistenz und Unterstützung von Menschen im Langzeitbezug."
Erweitertes Beobachtungsystem zur Zielsteuerung?
Wie aber lassen sich in den Jobcentern Erfolge bei der Weiterentwicklung sozialer Teilhabe mit Blick auf die Organisationsprozesse als auch auf die individuelle Förderung messen? Bislang sind nach § 48 b SGB II lediglich drei Ziele operationalisiert: Minderung der Hilfebedürftigkeit, Verbesserung der Integration in Erwerbstätigkeit sowie Vermeidung von langfristigem Leistungsbezug. Alles was darüber hinausgeht, Teilhabe inklusive, wird zwar in Zielvereinbarungen fixiert, doch Messkonzepte und Indikatoren gibt es dafür nicht, denn Teilhabe lässt sich nicht so einfach standardisieren, hier sind aufwändigere Messverfahren nötig.
In einer mit „Zielsteuerung im SGB II. Kritik und Alternativen“ betitelten und 2016 publizierten Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung haben Heiner Brülle, Sozialplaner und Abteilungsleiter für Grundsatz und Planung im Amt für Soziale Arbeit der Landeshauptstadt Wiesbaden, und andere vor dem Hintergrund ihrer Kritik am bestehenden Zielvereinbarungs- und Kennzahlensystem nach Alternativen gesucht. Für sie war klar, dass „zur Überwindung der derzeitigen arbeitsmarktzentrierten Steuerung“ die Zielsteuerung um „die Zielsetzung der Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens“ ergänzt werden muss. Zudem sei die Zielsteuerung im SGB II „als Diskurs der Vereinbarungspartner_innen über die Wirksamkeit der bestehenden Prozesse und intendierten Wirkungen“ auszugestalten. „Dabei sind zwischen den Partner_innen Verfahren zur Beobachtung der Wirksamkeit zu verabreden.“ Es gelte, „Beobachtungsindikatoren zu entwickeln, die die Erreichung intendierter Wirkungen (in den Dimensionen sozialer Teilhabe) abzubilden vermögen.“ Darüber hinaus sei ein Verfahren zu institutionalisieren, „das in transparenter Weise bewertende Diskurse über die Wirkungen und den dahinter liegenden Leistungsprozess etabliert“ (siehe hierzu auch die im Modellprojekt „Soziale Teilhabe“ entwickelten Ansätze). Passend dazu schlagen die Autor*innen vor, nicht Zielvereinbarungen, sondern „Aufmerksamkeitsvereinbarungen“ abzuschließen.
Peter Bartelheimer stimmt dem weitgehend zu, weist aber darauf hin, dass dafür eine genaue Dokumentation der individuellen Leistungsprozesse unabdingbar ist und zu frühe Quantifizierungen und Standardisierungen eher schädlich sind. Auch eine Übereinstimmung in der Bewertung von Teilhabefortschritten zwischen Jobcenter und Leistungsbeziehenden sei nicht zwingend erforderlich. Eine wiederholte Vergewisserung, ob der eingeschlagene Weg beibehalten werden soll oder ob Leistungsberechtigte ihre Meinung im Zeitverlauf ändern, sei zu berücksichtigen: „Diese ständige Rückkoppelung ist das entscheidende partizipatorische Element.“
Bei allen berechtigten Bemühungen, soziale Teilhabe voranzutreiben, warnt der Wissenschaftler aber davor, den Lebensbereich „Erwerbsarbeit“ für einen bestimmten Personenkreis von vornherein auszuschließen, nur weil er kurzfristig nicht ansteht: „Das wäre ein Ausschlusstatbestand und eine Resignation. Damit wäre der Teilhabebegriff im SGB II strukturell und systemisch entwertet, würde zu einer residualen Zielkategorie für Bevölkerungsgruppen, zu denen einem gar nichts mehr einfällt. Das ist genau das Gegenteil von dem, was mit einem personenzentrierten Verständnis von Teilhabe, mit dem normativen Individualismus des Ansatzes erreicht werden soll.“ Es geht also nie „nur“ um soziale Teilhabe, sondern immer um ganze oder uneingeschränkte Teilhabe, wie es in der UN-BRK wörtlich heißt.
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