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(Heft 4/2022)
Interkulturelle Öffnung im Jobcenter Bochum

Verbesserung der Arbeitsmarktintegration geflüchteter Frauen

Seit März 2020 und bis Dezember 2022 begleitet das Teilprojekt „Interkulturelle Kompetenzentwicklung und interkulturelle Öffnung in Jobcentern in NRW“ (IKÖ) der G.I.B. im Rahmen des Förderprogramms „Integration durch Qualifizierung“ (IQ) das Jobcenter Bochum bei einem Organisationsentwicklungsprozess mit dem Ziel der interkulturellen Öffnung. Konkret geht es dabei um die Verbesserung der Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Frauen.
Dass in jeder Gesellschaft unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen oder unterschiedlicher Herkunft leben, ist eine Selbstverständlichkeit. Warum aber spiegelt sich die wachsende Vielfalt der Gesellschaft oft nur partiell oder gar nicht in Unternehmen, Organisationen und Verwaltungen wider? Anscheinend verhindern Zugangsbarrieren eine gleichberechtigte Repräsentanz etwa von Menschen mit Migrationshintergrund, sei es als Mitarbeitende, Führungskräfte oder als Nutzer*innen von Dienstleistungen. Vor diesem Hintergrund strebt interkulturelle Öffnung von Organisationen den Abbau dieser Zugangsbarrieren an, um auf politischer, gesellschaftlicher und organisatorischer Ebene Chancengerechtigkeit herzustellen.
 
Damit das gelingt, bietet das IQ-Team der G.I.B. interkulturelle Fortbildungen und Beratungen für Mitarbeitende aus Jobcentern, Agenturen für Arbeit, kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie kommunalen Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen an. Ziel ist, die interkulturelle Handlungskompetenz der Mitarbeitenden nachhaltig aufzubauen oder zu erweitern und interkulturelle Öffnungsprozesse in den Organisationen zu begleiten.
 
Eine der Organisationen, die vom IQ-Team der G.I.B. beraten und begleitet werden, ist das Jobcenter Bochum. Warum, begründet Mirko Günther, Teamleiter im dortigen Arbeitgeberservice, so: „Wir hatten schon vor Jahren eine Stelle nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz gebildet, an die sich Mitarbeitende wenden können, wenn sie sich aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder sexuellen Identität benachteiligt fühlen. Doch damit hat sich die Geschäftsführung unseres Hauses nicht begnügt, sondern überlegt, was wir nach innen und nach außen zusätzlich tun können, um bei interkulturellen Interaktionen zu mehr gegenseitigem Verständnis zu kommen.“
 
Eine gut nachvollziehbare Begründung, denn rund ein Viertel aller im Jobcenter Beschäftigten haben nach Einschätzung von Mirko Günther einen Migrationshintergrund. Eine hausinterne Diversität ist also schon lange Normalität. Das gilt erst recht für die Kundschaft des Jobcenters. Hier zeigt sich eine Diversität, die für ganz NRW typisch ist, denn hier hat ein Viertel der insgesamt knapp 18 Millionen Einwohner*innen eine Einwanderungsgeschichte. Zudem verzeichnet das Land auch aktuell eine wachsende Neuzuwanderung, insbesondere aus den EU-Ländern und den Krisengebieten dieser Welt, zuletzt vor allem aus der Ukraine. Bemerkenswert in diesem Kontext ist, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte etwa doppelt so stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Ein Grund mehr also für die Einrichtung, eine externe Beratung seitens des IQ-Teilprojekts der G.I.B. in Anspruch zu nehmen.

Optimierung der Beratungsqualität

 
Gleich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit bildete das Jobcenter eine Steuerungsgruppe, in der Vertreter*innen aus unterschiedlichen internen Arbeitsbereichen kooperieren, darunter die Beauftragte für Chancengleichheit und die Migrationsbeauftragte sowie Teamleiter*innen, Integrationsfachkräfte in der Arbeitsvermittlung und Fachexpert*innen für die berufliche Weiterbildung.
 
„In einem ersten gemeinsamen Brainstorming“, berichtet Mirko Günther, „konnten wir feststellen, dass unser Jobcenter hinsichtlich der interkulturellen Öffnung schon ziemlich gut war, doch wir wollten noch besser werden.“ Das ursprüngliche Vorhaben, alle rund 590 Mitarbeiter*innen des Hauses einzubeziehen, erwies sich aber angesichts der Pandemie aus Kapazitätsgründen als unrealisierbar. Also sollte sich die Mitwirkung zunächst auf die Kolleg*innen aus dem Bereich „Markt und Integration“ begrenzen, also diejenigen, die sich insbesondere auf die Arbeitsvermittlung der Kund*innen konzentrieren. 
 
Bei den folgenden Beratungen standen vor allem die Prozessstruktur, der Verlauf der Organisationsentwicklung und die Entwicklung einzelner Maßnahmen im Vordergrund. Als übergreifendes Ziel legten die Mitglieder der Steuerungsgruppe die Verbesserung der Arbeitsmarktintegration geflüchteter Frauen fest, da sich der Kontakt zu dieser Zielgruppe in der Pandemie noch mal erheblich erschwert hatte. Erreicht werden sollte das Ziel durch die Etablierung einer sprach- und kultursensiblen Beratung, die Entwicklung einer offenen Haltung von Mitarbeiter*innen durch interkulturelle Qualifizierung, die Vermittlung von Kinderbetreuungsangeboten sowie durch den Aufbau von Netzwerken mit anderen relevanten Akteuren. 
 
Als eins der wichtigsten Unterthemen hatte das Jobcenter die Kommunikation speziell im Umgang mit den Kund*innen und hier insbesondere mit geflüchteten Frauen identifiziert. Ursel Weber, Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt im Jobcenter Bochum: „Die Integration von Frauen mit Fluchthintergrund ist gekennzeichnet durch den Nachzug im Rahmen der Familienzusammenführung und die Betreuungspflichten hinsichtlich kleiner und oft mehrerer Kinder. Dadurch ist eine Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen häufig erschwert, oft unmöglich. Nicht zuletzt deshalb liegt der Förderanteil weiblicher Geflüchteter bei allen Förderinstrumenten deutlich unter dem prozentualen Frauenanteil von 38 Prozent. Integrationserfolge sind bei dieser Personengruppe bislang kaum zu verzeichnen. Deshalb wollten wir Handlungsansätze entwickeln, um langfristig die Integrationschancen geflüchteter Frauen positiv zu beeinflussen. Doch bislang hatten wir fast keine Erfahrungen mit dieser Personengruppe. Das Unterstützungsangebot der G.I.B. kam also genau zur richtigen Zeit.“ 
 
Da passte es, dass die G.I.B./IQ-Projektmit­arbeiterinnen Schulungen zum Thema „Interkulturelle Sensibilisierung“ und „Gen­der und Migration“ im Angebot hatten, – wobei Mirko Günther statt „Schulungen“ den Begriff „Workshop“ präferiert, „denn wir wollen ja nicht nur etwas übernehmen und auswendig lernen, sondern selbst aktiv sein und von unseren Erfahrungen im Kontakt mit Menschen aus anderen Kulturkreisen berichten, um gemeinsam zu erkennen, was sich dabei optimieren lässt.“
 
Lernen ließ sich für die Mitarbeiter*innen der Arbeitsvermittlung bei den Workshops zur „interkulturellen Sensibilisierung und Kommunikation“ dennoch einiges, zum Beispiel über unterschiedliche Kommunikationsstile und deren Wirkungen sowie über die Bedeutung der Wahrnehmung für kommunikative Prozesse. Mirko Günther: „Tatsächlich können wir in der alltäglichen Beratungspraxis oft erfahren, wie leicht es bei der Beratung vor allem von Menschen aus anderen Kulturkreisen zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen kommen kann. Im Seminar konnten wir erkennen, wie wichtig eine frühzeitige Reflexion über den Umgang mit kommunikativen Herausforderungen in der Beratungssituation ist.“ 
 
Hilfreich ist nach seiner Ansicht auch das Themenfeld „Gender und Migration“, das der Sensibilisierung von Mitarbeiter*innen der Arbeitsvermittlung für migrationsspezifische Genderaspekte in der Beratung dient. Mirko Günther: „Hier setzten sie sich mit der kritischen Reflexion von Geschlechterrollen, Rollenbildern und -erwartungen auseinander, mit geschlechts- und migrationsspezifischen Stereotypen sowie mit den Zusammenhängen zwischen Gender, Macht und gesellschaftlichen Strukturen. Die Berücksichtigung geschlechts- und migrationsspezifischer Aspekte steigert eindeutig auch die fachliche Qualität der Beratung, insbesondere bei der Beratung geflüchteter Frauen.“

Teilnahme an Sozialraumkonferenzen

 
Gekoppelt waren die Fragen zur Prozessstruktur einer interkulturellen Öffnung sowie zum Verlauf der Organisationsentwicklung mit der Entwicklung ganz konkreter Maßnahmen. So erstellten die Steuerungsgruppenmitglieder ein „Info-Board“ für Kund*innen, wo sie konkrete, praktische und übersichtlich gestaltete Informationen etwa zu Angeboten zur Kinderbetreuung oder zur Weiterbildung finden – und das alles in einfacher Sprache. Mirko Günther: „Es gibt auch viele Menschen ohne Migrationshintergrund in Deutschland, die zum Verstehen auf einfache Sprache angewiesen sind. Behördensprache nicht zu verstehen, ist kein Alleinstellungsmerkmal von zugewanderten Menschen. Einfache Sprache soll deshalb neben kultursensibler Sprache nicht nur das Info-Board prägen, sondern auch unsere Flyer und unser Internetangebot. Damit steigern wir die Erreichbarkeit nicht nur geflüchteter Frauen.“
 
Zugute kommt dem Jobcenter dabei der hauseigene und gemeinsam mit der Agentur für Arbeit betriebene Integration Point, in dem Integrationsfachkräfte und Arbeitsvermittler*innen SGB II und SGB III, Leistungssachbearbeiter*innen SGB II und Berufsberater*innen an einem Ort tätig sind und der als zentrale und rechtskreis­übergreifende Anlaufstelle für die Zielgruppe Flüchtlinge fungiert. Mirko Günther: „Die hier konzentriert vorhandene Sprachkompetenz unterstützt sowohl unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie auch unsere Kundinnen und Kunden. Übrigens werden die Diskussionen über interkulturelle Kommunikation aller Wahrscheinlichkeit nach auch Auswirkungen auf die Gestaltung unserer Bewerbungsverfahren haben, um Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen, die allein aufgrund ihrer Herkunft ein besonderes Verständnis für unsere Kundschaft mitbringen.“ 
 
Deutlich wurde laut Mirko Günther im Steuerungskreis auch, „dass wir unser bestehendes Netzwerk erweitern und intensivieren müssen.“ Geplant ist, zukünftig an Sozialraumkonferenzen teilzunehmen, also nicht nur auf höchster kommunalpolitischer Ebene zu kooperieren, sondern auch mit sozialen und Weiterbildungsträgern in den Stadtteilen: „Dazu müssen wir die Räumlichkeiten des Jobcenters auch mal verlassen und vor Ort präsent sein, also zum Beispiel bei der Bürgerberatung der Caritas, bei den von manchen Kitas organisierten Familientreffen, die speziell auch von Frauen mit Migrationshintergrund oder geflüchteten Frauen frequentiert werden, weil die Hemmschwelle, dort mitzuwirken, für sie viel niedriger ist.“ Bei solchen freien Trägern, die Integrationsarbeit in den unterschiedlichsten Sozialräumen leisten, will das Jobcenter eine aufsuchende Beratung anbieten: „Hier könnten wir vermutlich viel mehr über die Lebensumstände und besonderen Problematiken geflüchteter Frauen erfahren und von all dem, was einer Integration in den Arbeitsmarkt entgegensteht. Zugleich können wir ihnen Chancen aufzeigen, die sie bislang nicht kannten, und verdeutlichen, welche konkrete Unterstützung ihnen unser Jobcenter zu deren Realisierung bietet.“ Da ist zum Beispiel das Bundesprogramm „Stark im Beruf“, mit dem sich das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in enger Kooperation mit den Jobcentern für bessere Chancen von Müttern mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt einsetzt, und zwar sehr erfolgreich, wie eine aktuelle Wirkungsanalyse zeigt.
 
„Wichtig ist auch“, so Mirko Günther, „die Fähigkeiten und Fertigkeiten geflüchteter Frauen kennenzulernen, über die sie verfügen, ohne dass sie eine entsprechende Bescheinigung darüber oder einen Berufsabschluss vorweisen können. Hier geht es darum, kultursensibel zu reagieren und mit dem Hinweis auf das Grundgesetz, wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleich und Männer und Frauen gleichberechtigt sind, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und ihnen Weiterbildungsmöglichkeiten speziell für Frauen aufzuzeigen, um die Hemmschwelle für eine Teilnahme zu senken.“ Eins dieser Angebote ist etwa die „AGH Upcycling“, eine Arbeitsgelegenheit auch für geflüchtete, arbeitssuchende Frauen, die sich von einer nachhaltigen und kreativen Herstellung textiler Produkte und Tätigkeiten im Bereich Upcycling angesprochen fühlen: „Das unterstützt deren soziale Integration und Beteiligung an gesellschaftlich relevanten Themen mit Alltagsstrukturierung und Stabilisierung.“

Neue Herausforderungen 

 
Von besonderer Bedeutung ist in Zukunft eine Formulierung im „Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes (Regierungsentwurf)“. Dort heißt es: „Der Vermittlungsvorrang im SGB II wird abgeschafft.“ Eindeutig Vorrang haben jetzt Beratung, Qualifizierung und Weiterbildung. Für Mirko Günther ist klar: „Unser Ziel ist natürlich weiterhin, Menschen vom Leistungsbezug unabhängig zu machen. Dazu müssen Jobcenter neue Strategien entwickeln und sich ein Stück weit neu erfinden.“ Oft ist zu hören, mit Einführung des Bürgergelds lohne sich Arbeit nicht mehr. Doch das Team im Jobcenter Bochum will verdeutlichen, dass Arbeit mehr bedeutet als nur die materielle Absicherung, sondern Teilhabe am sozialen Leben und alle Möglichkeiten, die sich daraus ergeben.
 

Kontakt

Mirko Günther
Teamleiter Arbeitgeberservice Bochum
Teamleiter Stabstelle ÖGB
Tel.: 0234 3052036
mirko.guenther2@arbeitsagentur.de
www.arbeitsagentur.de

Autor

Paul Pantel
Tel.: 02324 239466
paul.pantel@vodafonemail.de

Ansprechperson in der G.I.B.

Hyre Sutaj
Tel.: 02041 767173
h.sutaj@gib.nrw.de
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