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(Heft 4/2022)
Fachlicher Austausch „Face to Face“

Kümmern im Quartier

Nach über zwei Jahren coronabedingter Online-Treffen stand unkomplizierter und persönlicher fachlicher Austausch am 15. September 2022 in der Lohnhalle der ehemaligen Bottroper Zeche Arenberg-Fortsetzung im Vordergrund. Zum Herbsttreffen der Projekte „Zusammen im Quartier – Kinder stärken – Zukunft sichern“ (ZiQ) hatten das Team der G.I.B. Armutsbekämpfung und Sozialplanung sowie das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfalen (MAGS) die Beteiligten eingeladen.
Arme und von Armut bedrohte Menschen leben in der Regel in marginalisierten Gebieten, in denen sich Herausforderungen für Stadt- und Sozialplanung häufen, wie das ZiQ-Förderprogramm anhand seiner vielfältigen Projekte überzeugend dokumentiert. Obwohl sich die Quartiere und ihre Bewohnerinnen und Bewohner durchaus unterschiedlich zeigen, gelten für sie die gleichen zentralen Fragen: Welche Hilfestellungen benötigen die dort lebenden Kinder, Jugendlichen und deren Familien und welche Wege der Aktivierung eignen sich für sie, um selbstwirksam Perspektiven für sich und ihr Lebensumfeld zu entwickeln? 

Vertrauensarbeit in den Quartieren benötigt Zeit und Verlässlichkeit
 

Die Mitarbeitenden der ZiQ-Projekte haben ihren Wirkungskreis eindeutig auf das jeweilige Quartier konzentriert. Ihre Arbeit vor Ort ist möglichst aufsuchend, die Angebote niederschwellig, das ist schon programmatisch so vom MAGS vorgegeben. Sie sind eine bekannte Anlaufstelle im Stadtteil, sie beobachten, sind ansprechbar, vermitteln, vernetzen, geben Impulse und sind damit letztlich das Sprachrohr des Quartiers in die Verwaltung und Politik. Sie haben aber nicht nur ihre Augen und Ohren im Quartier, sondern bringen auch Akteure und Ressourcen zusammen, um etwa Unterstützungs­angebote in Kooperationen mit lokalen Vereinen und Institutionen bedarfsgerecht zu implementieren und hierdurch die einzelnen Bewohner*innen und das gesamte Quartier nachhaltig zu stärken. 
 
Neben der Niederschwelligkeit ist das Fundament von Quartiersarbeit eine Haltung der Offenheit, Akzeptanz und Wertschätzung gegenüber den dort lebenden Menschen und ihrer Lebenssituationen. Auf dieser Basis hat sich in den letzten Jahren in vielen Stadtteilen ein vertraulicher Umgang miteinander entwickeln können, der Projektverantwortlichen den Gestaltungsspielraum eröffnet, ihre Unterstützung immer wieder den aktuellen Bedarfen anzupassen. Die Ausrichtung des ZiQ-Förderprogramms sowie die mögliche Laufzeit von vier Jahren boten dafür einen guten Rahmen. Gleichwohl ist der Projektalltag harte Arbeit, denn es gelingt nicht immer mühelos, mit den Menschen im Quartier und potenziellen Partnern in Verbindung zu kommen. Vor allem benötigt es unentwegten Einsatz, Zeit und verlässliche Anlaufstellen, besonders vor dem Hintergrund der Coronapandemie und den Herausforderungen des gegenwärtig bedrohlichen Weltgeschehens. So hat gegenseitige Inspiration, Motivation und Anerkennung eben auch für Projektmitarbeitende eine herausragende Bedeutung, um bildlich gesprochen „am Ball zu bleiben.“ Dafür stehen die regelmäßig stattfindenden und von der G.I.B. organisierten ZiQ-Zirkeltreffen. „Mit diesem Format bieten wir allen Beteilig­ten eine wertschätzende Atmosphäre für Austausch auf kurzem Wege und die Möglichkeit, aktuelle Arbeitsthemen direkt zu platzieren“, veranschaulichen die Mitarbeitenden des Teams Armutsbekämpfung und Sozialplanung Lisa Bartling und Lars Czommer. 

Steigender Bedarf an individueller Sozialberatung
 

Gesellschaftliche Verwerfungen treffen arme und von Armut bedrohte Menschen besonders. Diese Tatsache entspricht den Erfahrungen aus der Arbeit vor Ort. Die negativen Auswirkungen der Pandemie sind noch immer deutlich erlebbar, dazu kommen „on top“ die Sorgen um steigende Kosten für Nahrungsmittel und Energieversorgung. Eine Projektmitarbeiterin fasst ihre aktuellen Beobachtungen wie folgt zusammen: „Bei Nahrungsmitteln stellt sich in einigen Haushalten schon jetzt nicht mehr die Frage, ob diese gesund sind, sondern wie ich überhaupt welche beziehen kann.“ Dass junge Menschen es in Erwägung ziehen, ihre Ausbildung oder Qualifizierung abzubrechen, um stattdessen kurzfristig lukrativ erscheinende Jobs anzunehmen, sind keine Einzelfälle mehr, auch nicht Retraumatisierungen durch die aktuelle kriegerische Russland-Ukraine-Auseinandersetzung und die wachsende Angst vor einem möglichen Atomkrieg. Der Hilfebedarf in den Familien der Projektstadtteile entwickelt sich dabei immer individualisierter und komplexer. Er spiegelt sich in wachsender Nachfrage nach „Eins-zu-eins-Beratungen“ wider und kratzt dabei empfindlich an den Ressourcen der Ansprechpartner*innen. Armut zeigt sich hier in unterschiedlichsten Facetten, beispielsweise als Defizite in der Sozialkompetenz, der Bewegung oder auch der Kommunikationsfähigkeit. Viele Familien haben zudem einen Flucht- bzw. Zuwanderungshintergrund, ob aus Syrien, Bulgarien, Ukraine oder anderen Ländern. Die unterschiedlichen Sprachen bilden eine Barriere für die Verständigung untereinander und auch dafür, Angebote zur Verbesserung der eigenen Lebenslage annehmen zu können. Zertifizierungen für Sprachlehrer*innen gestalten sich nach Aussagen von Projektmitarbeiter*innen jedoch kompliziert, langwierig und teuer. Zudem wird es immer schwieriger, Ehrenamtler*innen für eine Mitarbeit bei den Projekten zu gewinnen. 

Niederschwelligkeit als Türöffner
 

Häufig gelingt der Zugang zu den Familien über Angebote für Kinder- und Jugendliche. Ob Theaterprojekte, Gemeinschaftsgärten, Kinderflohmärkte, Elternberatung und Elterncafé, Musik- oder Spielangebote, gemeinschaftliche Aktivitäten schweißen zusammen. Manche Familien sind bereits seit Projektbeginn mit dabei, sie vernetzen sich untereinander und agieren mittlerweile als Multiplikator*innen. So werden Informationen von Mund zu Mund oder über die sozialen Medien weitergegeben. Das Bedürfnis nach sozialem Austausch ist groß, berichten Projektmitarbeitende. Offene, unverbindliche Mitmach- und Kommunikationsangebote, angebunden an lokale Institutionen oder auch auf der Straße, auf Plätzen und Spielflächen, erreichen die Bewohner*innen des Stadtteils direkt in ihrem Lebensumfeld. Durch die Projekte wird offenkundig: Aufgrund der Coronapandemie hat der öffentliche Raum in der Quartiersarbeit eine zentrale Rolle eingenommen, aber auch, weil in manchen Wohnsiedlungen schlichtweg Räumlichkeiten für Begegnungen fehlen. Für Wolfgang Kopal und seine Kollegin Vera Strucks vom MAGS „sind die direkten Einblicke in die praktische Projektarbeit fachlich essenziell, besonders im Hinblick auf die Gestaltung zukünftiger Förderprogramme.“ 
 
Was wird aber nach Einschätzung der Projektvertreter*innen die Quartiersarbeit in den nächsten Jahren bestimmen? Sicherlich wird es unerlässlich sein, probate, noch immer aktuelle Themen, wie Gesundheit und Resilienz weiterzuverfolgen und für neue Problemlagen unermüdlich weitere Spezialist*innen zum Ausbau bestehender Netzwerke zu gewinnen. Nach Lisa Bartling und Lars Czommer trägt die Arbeit der G.I.B. dazu bei, „die „gute Botschaft“ der Projekte nach außen weiterzugeben und die Wertschätzung für diese Art von Trägerarbeit zu erhöhen.“ Denn es wird ebenfalls wichtig bleiben, das Trägerwirken selbstbewusst in Runden Tischen, Steuerungsgruppen und Gremien von Verwaltung und Politik über den Fokus der Gesamtstadt hinaus bekannt zu machen. „Dem Quartier eine Stimme geben“, nennt es Wolfgang Kopal. Damit die Kenntnisse über die Unterstützungsbedarfe der Quartiere noch mehr Gewichtung in der kommunalen Stadt- und Sozialplanung bekommen.
 

Ansprechpersonen im MAGS

Ministerium für Arbeit, Gesundheit und
Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen
Wolfgang Kopal
Gabriele Schmidt
Vera Strucks
zusammen-im-quartier@mags.nrw.de

Autorin

Marion Slota
Tel.: 0157 77035666
info@marion-slota.de

Ansprechpersonen in der G.I.B.

Lisa Bartling
Tel.: 02041 767263
l.bartling@gib.nrw.de 
Lars Czommer
Tel.: 02041 767254
l.czommer@gib.nrw.de 

Die filmerische Dokumentation zur Veranstaltung finden Sie hier:

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