G.I.B.: Frau Dr. Granato, was verstehen Sie unter anerkennungssensibler Berufsorientierung?
Doch woran liegt es, dass Jugendliche sich bei ihrer Berufswahl zunehmend von bestimmten Berufen abwenden, sodass der dringend benötigte Nachwuchs fehlt? Die Ergebnisse unserer BIBB-Studie von Stephanie Matthes in NRW zeigen: In der Berufswahl von Jugendlichen spielt das Bedürfnis, von relevanten Dritten sozial anerkannt und akzeptiert zu werden, für den Ausschluss von Berufen eine fundamentale Rolle. Das heißt, Berufswahl ist maßgeblich geleitet von dem Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung, daher brauchen wir eine anerkennungssensible Berufsorientierung. Denn Berufe, bei denen Jugendliche mit negativen Rückmeldungen von Eltern oder Freunden rechnen, schließen sie fast immer von vorneherein aus. Das gilt auch dann, wenn die Tätigkeiten im Beruf zu den eigenen Interessen und Fähigkeiten passen.
Welche Bedeutung hat dies für Angebote zur Berufsorientierung?
Dr. Mona Granato: Das bedeutet, wir müssen darauf achten, dass Berufsorientierung das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung der Jugendlichen in der Berufswahl stärker als bisher berücksichtigt. Daher die Idee, eine „anerkennungssensible“ Berufsorientierung zu fördern – eine Idee, die sich auch auf theoretischen Erkenntnissen gründet. Nach Linda Gottfredson folgt Berufswahl einer Ausschlusslogik: Heranwachsende beginnen bereits im Kindesalter, Berufe nach Geschlechtstypik zu kategorisieren und begreifen zum Ende der Grundschule, dass Berufe nach dem Prestige sozial unterschiedlich bewertet werden. „Unpassende“ Berufe schließen sie zumeist aus dem Feld möglicher Berufsoptionen aus.
Eine anerkennungssensible Berufsorientierung geht davon aus, dass Jugendliche sich stärker Berufen zuwenden, die ihnen ein hohes Identifikationspotenzial bieten. Sie hat zum Ziel, das bisher in Berufsorientierungsangeboten vernachlässigte soziale Anerkennungsbedürfnis von Berufswähler*innen in den Mittelpunkt zu stellen, um dadurch das Feld möglicher Berufsoptionen junger Menschen (wieder) auszuweiten und sie bei einer bewussteren und eigenständigeren Berufswahl zu unterstützen. Hierfür untersucht die BIBB/TUDa-Berufsorientierungsstudie evidenzbasiert die Wirksamkeit von zwei neuartigen Berufsorientierungsangeboten. Zum einen ist dies der „Ausbildungsbotschafter“, welcher unter anderem von IHK und HWK angeboten wird, zum anderen unser Workshop „Logiken der Berufswahl“.
Frau Mutlu, wie ist die Idee für das innovative Workshop-Konzept „Logiken der Berufswahl“ entstanden und welche Ziele verfolgen Sie damit?
Hierfür haben wir eigens einen Workshop entwickelt, der 90 Minuten umfasst. Wir nutzen dafür verschiedene Sequenzen, die die Schüler*innen erkennen lassen, dass sie möglicherweise bereits frühzeitig bestimmte Berufe und Bildungswege ausgeschlossen haben, warum sie das getan haben und welche Logiken dahinterstehen. Unser Ziel ist es, die Jugendlichen dabei zu unterstützen, zu erkennen, wie viele unbewusste Prozesse bei der Berufswahl eine wichtige Rolle spielen. Die Schüler*innen werden durch die Teilnahme an unserem Workshop angeregt, darüber nachzudenken, welche Bedürfnisse sie zukünftig bei der Berufswahl wie gewichten und an welchen Kriterien sie ihre Berufswahl ausrichten möchten.
Im Rahmen dieses Workshops werden die Schüler*innen dazu ermutigt, offen über diese Logiken zu sprechen und zu diskutieren. Die direkte Auseinandersetzung, also der ganz explizite Zugang zu diesem Thema ist ein innovatives Konzept, da solche Maßnahmen oder Angebote in dieser Form noch zu selten etabliert sind.
Das heißt, Ziel des Workshops ist, den Schüler*innen genau diese Logiken bewusst zu machen. Zugleich konzentriert sich der Workshop auf das Ziel, Jugendliche anzuregen, über ihr Bedürfnis nach sozialer Anerkennung nachzudenken und dieses in ein reflektiertes Verhältnis zu anderen Bedürfnissen und Kriterien der Berufswahl zu setzen. Hierfür nutzen wir im Workshop verschiedene spielerische Mittel und Methoden, die die Schüler*innen dazu ermutigen, ihre eigenen Geschlechter- und Prestigestereotypen zu diskutieren und dabei zu reflektieren, wie diese ihre eigenen beruflichen Aspirationen beeinflussen. Wir verfolgen dadurch gleichzeitig unser Ziel dieses weitgehend unbewusste Verhalten, das zu einem Ausschluss von Berufen beiträgt, zu unterbrechen und die Schüler*innen darin zu unterstützen, eine bewusstere und selbstbestimmtere Berufswahlentscheidung treffen zu können. So kann der Workshop auch dazu beitragen, das Spektrum der in Betracht gezogenen Berufe wieder zu erweitern.
Wie sind aus Ihrer Erfahrung der BIBB/TUDa-Berufsorientierungsstudie bisher Haltung und Einschätzung der Schüler*innen und Lehrkräfte zum anerkennungssensiblen Berufsorientierungsangebot Workshop „Logiken der Berufswahl“?
Sevil Mutlu: In der BIBB/TUDa-Berufsorientierungsstudie untersuchen wir, wie sich anerkennungssensible Berufsorientierungsangebote wie unser Workshop Logiken der Berufswahl in der Praxis realisieren lassen und wie sie wirken. Der eigens von uns konzipierte Workshop wurde in vielen Klassen erprobt und wird jetzt im Rahmen unserer Studie kontinuierlich in Schulen eingesetzt. Dadurch hatten wir die Möglichkeit, erste Eindrücke und Erfahrungen zu gewinnen. Diese deuten darauf hin, dass unser Workshop Denkprozesse in Gang setzen kann und eine wertvolle Ergänzung zu bisherigen Berufsorientierungsangeboten darstellt. Im Rahmen unserer Berufsorientierungsstudie führen wir den Workshop mit Schüler*innen verschiedener Altersstufen und in verschiedenen Schulformen durch.
Im Workshop Logiken der Berufswahl entstehen immer wieder Situationen, in denen die Jugendlichen ihr eigenes Denken thematisieren. Beispielsweise teilt ein Schüler noch während des Workshops mit, dass er tatsächlich einen anderen Beruf wählen würde, wenn er unabhängig von der Meinung seiner Eltern entscheiden könnte. Er erkennt während des Workshops, dass ihm diese Tatsache davor überhaupt nicht bewusst gewesen ist. Eine Schülerin am Gymnasium mit einem Wunschberuf im Handwerk äußert zum Beispiel, dass ihre Eltern einen handwerklichen Beruf nicht akzeptieren würden. Auch sie erkennt im Verlauf des Workshops, wie sehr das Bedürfnis nach Anerkennung durch ihre Eltern ihre Berufswahl beeinflusst hat. Ein anderer Schüler, der die mittlere Reife anstrebt, bestätigt das Bedürfnis nach Anerkennung beispielsweise, indem er vor seinen Mitschüler*innen in der Diskussion im Workshop äußert, dass ihm sehr wichtig sei, für seinen Beruf bewundert zu werden und er daher Polizist werden wolle, weil er allein durch die Uniform Respekt aus seinem Umfeld erwarte. Er betont gleichzeitig, dass ihm der Beruf des Kochs mehr Spaß machen würde. Und nach dem Workshop sagt der gleiche Schüler auch, dass er vielleicht doch lieber den Beruf des Kochs ausüben möchte, da ihm dies das Wichtigste sei. Dies ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Schüler*innen angeregt durch die Teilnahme an unserem Workshop anfangen, über ihre verschiedenen, zum Teil auch widersprüchlichen Bedürfnisse bei der Berufswahl, bewusst zu reflektieren.
Austausch und anschließende Gespräche mit Lehrkräften, die während des Workshops anwesend waren, bestärken die Relevanz der Auseinandersetzung mit den Workshopinhalten. Sie verfolgen aufmerksam und interessiert die Aussagen ihrer Schüler*innen, zeigen sich aber auch an der einen oder anderen Stelle überrascht und freuen sich darüber, dass unser Workshop Freiräume für solche Gespräche und Diskussionen bietet.
Was bedarf es neben eines solchen Ansatzes, um das Image von Branchen und Berufen weiterzuentwickeln? In welchem Verhältnis steht Ihr Ansatz zur Attraktivitätssteigerung der dualen Ausbildung?
Dr. Mona Granato: Das gesellschaftliche Ansehen hängt auch eng mit den Rahmenbedingungen von Berufen zusammen, wie die BIBB-NRW-BO-Studie von Stephanie Matthes zur Nichtwahl zeigt: Nehmen Jugendliche an, dass die Rahmenbedingungen eines Berufes, also zum Beispiel Einkommen und Arbeitsbedingungen oder Ähnliches nicht zu ihren Vorstellungen passen, dann schließen sie diesen Beruf aus ihren Berufsoptionen aus, auch wenn sie sich für die Tätigkeiten in diesem Beruf interessieren. Das heißt, wir müssen auch an diesem zweiten wichtigen Grund für den Ausschluss von Berufen ansetzen, um wieder mehr junge Menschen zu gewinnen. Die Berufsorientierungspraxis kann hierzu beitragen, indem sie Jugendliche bei der Auseinandersetzung und Reflexion ihrer Erwartungen an einen künftigen Beruf im Hinblick auf zentrale Rahmenbedingungen wie Einkommen, Arbeitsbedingungen und Aufstiegsbedingungen mit den Möglichkeiten des jeweiligen Berufs fördert.
Zentral ist aber, um die Attraktivität von Ausbildungsberufen zu stärken, dass hier grundlegende politische, auch tarifpolitische Weichenstellungen erfolgen, um Einkommen und Arbeitsbedingungen so zu verbessern, dass Jugendliche in Zukunft Berufe in Pflege, im Gaststätten- und Hotelbereich oder im Handwerk wieder als attraktiv ansehen, diese erlernen möchten und in diesen Berufen dauerhaft arbeiten (möchten und können).
In NRW haben wir mit KAoA ein standardisiertes System zur beruflichen Orientierung. Zugleich gibt es hierzulande scheinbar einen Attraktivitätsverlust der dualen Ausbildung und einen großen Fachkräftebedarf. Vor diesem Hintergrund und im Kontext der ersten Erfahrungen Ihrer beiden neueren Ansätze zur Berufsorientierung: Was würden Sie NRW empfehlen?
Dr. Mona Granato: Das Konzept von KAoA adressiert zentrale Aspekte des Übergangs Schule – Ausbildung und der Berufsorientierung. Das ist angesichts der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft und sich ändernder Bildungspräferenzen gerade in Zeiten von Pandemie und dem damit verbundenen Mangel an Erprobung durch die Einschränkungen bei betrieblichen Praktika und angesichts einer von komplexen Krisen geprägten „Zeitenwende“ eine gewaltige Herausforderung, die ständig neue Antworten erfordert.
Aus unserer Sicht ist es zentral, weitere Angebote anerkennungssensibler Berufsorientierung zusätzlich und dauerhaft in das Portfolio von KAoA aufzunehmen. Gerne möchten wir, neben den Ausbildungsbotschaftern, auch unseren Workshop Logiken der Berufswahl empfehlen, den wir aktuell noch auf seine Wirksamkeit hin untersuchen. Unsere ersten Erfahrungen mit der Durchführung des Workshops deuten auf eine gute Akzeptanz bei Schüler*innen hin und darauf, dass durch diesen Workshop bei ihnen weitere Reflexionsprozesse und „Aha-Erlebnisse“ in Gang gesetzt werden. Diese können zu einer selbstbestimmteren Berufswahl beitragen und damit zu einer Ausweitung ihrer Berufsoptionen. Auch das Berufsorientierungsangebot Ausbildungsbotschafter, das wir gleichfalls untersuchen, kann dazu beitragen. Für beide Berufsorientierungsangebote liegen Mitte 2023 empirisch fundierte Ergebnisse vor, in welchem Kontext sie unter welchen Rahmenbedingungen, wie und bei welchen Schülergruppen gut wirken. Dies könnte ein passender Zeitpunkt sein, um die Erweiterung des Portfolios von KAoA um anerkennungssensible Berufsorientierung konkret anzugehen.
Kontakte
Dr. Mona Granato
Bundesinstitut für Berufsbildung, Arbeitsbereich 1.4 „Kompetenzentwicklung“, Sprecherin des BIBB-Forschungsprojekts „Bildungsorientierungen von Jugendlichen“ und Ko-Sprecherin der BIBB/TUDa-Berufsorientierungsstudie
granato@bibb.de
Bundesinstitut für Berufsbildung, Arbeitsbereich 1.4 „Kompetenzentwicklung“, Sprecherin des BIBB-Forschungsprojekts „Bildungsorientierungen von Jugendlichen“ und Ko-Sprecherin der BIBB/TUDa-Berufsorientierungsstudie
granato@bibb.de
Sevil Mutlu
Technische Universität Darmstadt, Arbeitsbereich Berufspädagogik und Berufsbildungsforschung am Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik
sevil.mutlu@tu-darmstadt.de
Technische Universität Darmstadt, Arbeitsbereich Berufspädagogik und Berufsbildungsforschung am Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik
sevil.mutlu@tu-darmstadt.de
Link
BIBB/TUDa-Berufsorientierungsstudie: https://www.bibb.de/de/119273.php
Literaturhinweise
Gottfredson, L. S. (2005): Applying Gottfredson’s theory of circumscription and compromise in career guidance and counseling. In: Brown, S. D.; Lent, R. W. (Hg.). Career development and counseling. Putting theory and research to work. Hoboken, NJ: Wiley, S. 71 – 100
Matthes, S. (2019): Warum werden Berufe nicht gewählt? Die Relevanz von Attraktions- und Aversionsfaktoren in der Berufsfindung. Leverkusen: Barbara Budrich