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(Heft 4/2022)
100 zusätzliche Ausbildungsplätze für Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderungen in NRW

„Anders“ sind alle

Noch immer und oft wird Menschen mit Behinderung eine geringere Produktivität unterstellt als Menschen ohne Behinderung. Folglich bleibt ihnen bis heute der Zugang zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt erschwert. Dabei ist längst erwiesen, dass Menschen mit Behinderung mit ihren fachlichen wie überfachlichen Potenzialen einen positiven Effekt auf die Zusammenarbeit in einem diversen Team aus behinderten und nicht behinderten Menschen haben, dass sie dazu beitragen, den Fachkräftebedarf zu decken und dass junge Menschen mit Behinderung – professionell unterstützt – erfolgreich eine Lehre absolvieren. Letzteres beweist die Aktion „100 zusätzliche Ausbildungsplätze für Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderungen“ der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen.
Fast scheint es, als sei der ständig beklagte Mangel an Fach- und Nachwuchskräften nur ein Trugbild. Wie sonst ließe sich erklären, dass tausende gut qualifizierter und motivierter Menschen mit Behinderung einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz suchen, ohne je von Arbeitgeber*innen zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden? Oder liegt es an Vorurteilen der Unternehmen, an fehlenden Kenntnissen über das Qualifikationspotenzial von Menschen mit Behinderung oder an unzureichenden Informationen über Unterstützungsangebote, die sie bei deren Beschäftigung oder Ausbildung in Anspruch nehmen können?
 
Aufklären kann hier schon ein Blick in den von der Bundesagentur für Arbeit publizierten Bericht zur „Arbeitsmarktsituation schwerbehinderter Menschen 2021“. Dort ist zu erfahren, dass arbeitslose Menschen mit Schwerbehinderung gut qualifiziert sind. Mehr noch: „Anteilig finden sich bei schwerbehinderten Arbeitslosen etwas mehr Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung als bei nicht-schwerbehinderten Arbeitslosen.“ 
 
Warum also zahlten im Jahr 2020 in Nord­rhein-Westfalen rund 56 Prozent aller Unternehmen mit mindestens 20 Arbeitsplätzen lieber die Ausgleichsabgabe, statt auf mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze Menschen mit Schwerbehinderungen zu beschäftigen, – wozu sie gesetzlich verpflichtet sind? Erstaunlich ist deren Zurückhaltung auch deshalb, weil viele Betriebe, die Menschen mit Behinderung eingestellt haben, laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung „keine Unterschiede sehen zwischen Menschen mit und ohne Schwerbehinderungen in Bezug auf Arbeitsmotivation, Leistungsfähigkeit, Einarbeitung, Fehlzeiten, soziale Einbindung oder Belastbarkeit.“ Immerhin zwölf Prozent der befragten Betriebe mit einer so divers geprägten Belegschaft waren sogar der Meinung, „dass die Beschäftigung von schwerbehinderten Personen die Sozialkompetenz der Kolleginnen und Kollegen steigert.“
 
Stimmt schon: In großen Unternehmen erleichtern „Behindertenbeauftragte“ oder „Disability Manager“, die Integration von Menschen mit Behinderung in die Belegschaft, in kleineren Unternehmen sind entsprechend ausgebildete Expert*innen eher selten zu finden. Doch unabhängig von Unternehmensgröße und Branche bietet die Bundesagentur für Arbeit Unternehmen, die Menschen mit Schwerbehinderung einstellen, Eingliederungszuschüsse oder die Möglichkeit der Probearbeit, „um Einstellungsvorbehalte auszuräumen und dadurch eine vollständige und dauerhafte Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen.“ Zudem erstattet die Bundesagentur für Arbeit Unternehmen Investitionskos­ten für die Schaffung neuer Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen sowie Kosten etwa für die behinderungsgerechte Einrichtung der Arbeitsstätte. Schwerbehinderte Beschäftigte wiederum können Leistungen zur Arbeitsassistenz erhalten, wie etwa Vorleser*innen bei einer vorhandenen Sehschwäche. Richtig gemanagt, verflüchtigen sich also unternehmerische Befürchtungen hinsichtlich Leistungsdefiziten und Mehraufwand, wird für sie aus einem vermeintlichen Manko ein personeller Gewinn. 
 
Kaum weniger prekär als auf dem Fachkräftemarkt ist die Lage für Menschen mit Behinderung im Ausbildungsbereich. Weil die Chancen, einen betrieblichen Ausbildungsplatz zu bekommen, für viele junge Menschen mit Behinderung trotz wachsender Angebote auf dem Ausbildungsmarkt schon lange gering sind, hat die Landesregierung bereits vor 16 Jahren die Aktion „100 zusätzliche Ausbildungsplätze für Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderungen“ gestartet – eine fortwährende Erfolgsgeschichte, der ein intelligentes Konstrukt zugrunde liegt: Für die Durchführung der Ausbildung sind Träger der beruflichen Bildung verantwortlich. Sie schließen mit den teilnehmenden Jugendlichen einen Ausbildungsvertrag ab, stellen ihnen einen Ausbildungscoach an die Seite, führen bei Bedarf individuellen Förderunterricht durch und unterstützen zugleich die bei der Ausbildung mitwirkenden Betriebe. Rund 1.700 junge Menschen mit Behinderungen haben hierdurch bereits den Weg in eine duale Ausbildung gefunden. 

Vorbildliche Inklusion

 
Auch jungen Menschen mit Behinderung kann eine qualifizierte Ausbildung gelingen. Wer daran zweifelt, kann sich mit einem Blick auf die Ausbildungspraxis der Stadtwerke Arnsberg, die sich als Kooperationsbetrieb an der „Aktion 100“ beteiligen, selbst davon überzeugen: „Wir sehen es als unsere Aufgabe, jungen Menschen mit Handicap die Chance zu geben, hier bei uns eine Ausbildung zu absolvieren“, sagt Irena Struwe-Filipaja, Personalleiterin des Unternehmens, „als hundertprozentige Tochter der Stadt Arnsberg haben wir auch eine soziale Verantwortung und die nehmen wir wahr.“ 
 
So auch im Fall eines jungen Mannes, der von der Erb`schen Parese betroffen ist, einer Lähmung, die durch die Verletzung von Nervensträngen bei der Geburt entsteht. Seitdem ist bei ihm der Bewegungsradius eines Arms stark eingeschränkt. Später in der Grundschule machte sich bei ihm ein zweites Handicap bemerkbar: Epilepsie. Bei dieser Erkrankung ist das Gehirn übermäßig aktiv und sendet sporadisch extrem viele Signale aus. Das kann zu Verkrampfungen bis hin zur Bewusstlosigkeit führen. Ganz so schlimm ist es bei ihm nicht, aber es kann passieren, dass er bei ganz einfachen Tätigkeiten wie etwa dem Hochfahren des Computers verkrampft, wobei der Zustand mehrere Minuten andauernd kann und zur Verwirrung führt. Anschließend stellen sich starke Kopfschmerzen ein, wie bei einer Migräne. 
 
Die Stadtwerke Arnsberg sahen darin keinen Grund, ihm einen Ausbildungsplatz zu verwehren. Vielmehr zogen sie den Schluss: „Man muss einfach Rücksicht nehmen auf die Behinderung und ein bisschen flexibel sein.“ Und das waren die Stadtwerke Arnsberg bei der Ausbildungsorganisation. Personalleiterin Irena Struwe-Filipaja: „Da wir wussten, dass der Auszubildende aufgrund seiner Epilepsie nicht übermäßig vielen Reizen ausgesetzt sein sollte, hat er die ansonsten für Auszubildende obligatorische Tätigkeit in unserem Info-Point übersprungen. Das ständige Klingeln des Telefons und der andauernde Strom an Kundinnen und Kunden hätten ihn mit ihrer Reizüberflutung überfordert.“
 
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Auch im Rahmen der „Aktion 100“ gelten für junge Menschen mit Behinderung die Ausbildungspläne der Kammern. Sie sind für alle verbindlich. Doch den Betrieben bleiben Variationsmöglichkeiten und die haben die Stadtwerke Arnsberg genutzt. Irena Struwe-Filipaja: „Zur Ausbildung gehört auch, die Arbeit in unserem Kundencenter kennenzulernen. Dort fallen betriebsbedingt die meisten Arbeiten zum Jahreswechsel an. Da ist eine gewisse Hektik vorprogrammiert. Also haben wir den jungen Mann in dieser Abteilung ganz bewusst einfach in den Sommermonaten eingesetzt – und schon war das vermeintliche Problem gelöst.“
 
Im Kollegium wird die Behinderung des Auszubildenden kaum mehr wahrgenommen, sagt die Personalleiterin, „im Gegenteil, wir haben während seiner Ausbildung im Bereich Marketing zusätzliche Fähigkeiten an ihm entdeckt, etwa dann, als es darum ging, schöne Texte zu erstellen. Das ist ihm immer hervorragend gelungen.“ Mittlerweile hat der Auszubildende seine Ausbildung souverän abgeschlossen und einen unbefristeten Arbeitsplatz bekommen. Sein Kommentar zum Gesamtverlauf könnte auch von seiner Personalleiterin stammen und scheint typisch für die Stadtwerke Arnsberg zu sein: „Es gibt immer für alles eine Lösung.“

Imponierende Zielstrebigkeit

 
Eigentlich wollte „Climbtools“, ein Fachhandel für Seilklettertechnik und Baumpflege in Mülheim an der Ruhr, seine Ausbildungsaktivitäten pandemiebedingt unterbrechen, sagt Marlis Kroehnert, Prokuristin der Benk GmbH: „Angesichts von Lockdown, Kurzarbeit und einer ungewissen wirtschaftlichen Zukunft hatten wir Bedenken, die gewohnte Qualität unserer Ausbildung gewährleisten zu können.“ Doch die Bewerbung eines Jugendlichen mit psychischer Behinderung aus der „Aktion 100“ vermochte die Personalverantwortliche umzustimmen: „Er war wirklich hochgradig an einer Ausbildung zum E-Commerce-Kaufmann speziell in unserem Betrieb interessiert, hatte sich bereits in das Themenfeld Seilklettertechnik und Baumpflege eingearbeitet und im Rahmen der ,Aktion 100‘ schon ein halbes Jahr am Unterricht im Berufsförderungswerk teilgenommen.“ Zudem war er beharrlich und bereit, verspätet in die Ausbildung einzusteigen, da der Betrieb mit ihr erst nach Ende des Lockdowns beginnen wollte: „Seine Zielstrebigkeit hat uns imponiert!“
 
Tatsächlich wusste der Jugendliche auch nach Ausbildungsbeginn fachlich zu überzeugen, sowohl in der Berufsschule wie im Betrieb: „Er war eigenständig aktiv, musste nicht bei jedem Schritt begleitet werden, war technikaffin und konnte aufgrund seiner IT-Kenntnisse im Kollegium auch immer mal wieder Hilfestellung leis­ten.“ Ständiger Kundenkontakt in einer der stationären Handelsfilialen hingegen wären für ihn weniger geeignet, vermutet Marlis Kroehnert, aber die persönlichen Beziehungen im überschaubaren 20-köpfigen Team sowie telefonische Kundenkontakte bereiten ihm keine Probleme: „Er nimmt ja auch an allen fachbezogenen Zusatz-Fortbildungen teil und interagiert dort im Schulungsraum mit anderen Menschen.“
 
Seine Leistungen waren so gut, dass eine vorzeitige Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer immer wahrscheinlicher wurde. Eine plötzliche Beeinträchtigung seiner körperlichen Gesundheit verhinderte dies jedoch und machte auch die psychische Behinderung sporadisch bemerkbar, was sich insgesamt in längeren Fehlzeiten niederschlug. Der Betrieb wusste damit umzugehen. Marlis Kroehnert: „Jedes Unternehmen lebt mit dem Risiko, dass eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit ausfallen kann. Man muss betrieblich darauf vorbereitet sein. Für den Jugendlichen war die Situation jedenfalls weitaus schlimmer, denn ihm gingen so wichtige Lern- und Kontaktzeiten verloren.“
 
Doch mit derselben Zielstrebigkeit wie bei der Ausbildungsplatzsuche fand er nach den Auszeiten immer wieder schnell zu seinem gewohnten Leistungsniveau zurück. Nicht nur deshalb war er bei seinen Kolleg*innen voll akzeptiert. Marlis Kroeh­nert: „Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben ihre Besonderheiten, und seine Besonderheit wird von niemandem als ‚anders besonders‘ angesehen.“ Klar jedenfalls ist schon heute: Nach bestandener Abschlussprüfung wird der Auszubildende in ein Angestelltenverhältnis übernommen.

Persönlichkeitsdiverse Belegschaft 

 
Alles andere als im Mittelpunkt des Arbeitsalltags steht die psychische Behinderung eines Auszubildenden in der conversionmedia GmbH & Co. KG in Dinslaken, von der seine Kolleg*innen gar nichts wissen. „Warum auch?“, fragt Christine Krummeich, zuständig in der Online-Marketing-Agentur für Finanzen und Personal, „denn für die Zusammenarbeit ist die Behinderung irrelevant, und wer was über sich selbst erzählen will, ist jeder und jedem selbst überlassen. Wir sehen keinen sachlichen Grund, die Behinderung betriebsintern zu kommunizieren.“ 
 
Schon vor Ausbildungsbeginn hatte sie mit den beiden Geschäftsführern des inhabergeführten Unternehmens das örtliche Bildungswerk, mit dem der Jugendliche im Rahmen der „Aktion 100“ das Ausbildungsverhältnis abgeschlossen hat, ganz offen gefragt, welche Probleme aufgrund der Behinderung im Arbeitsalltag auftreten könnten und wie darauf zu reagieren wäre. Die Antwort des Trägers räumte alle Bedenken aus. Christine Krummeich: „Nachdem klar war, dass der junge Mann hinsichtlich Fähigkeiten, Interessen und Auftreten in unser Team passte, war für uns die psychische Behinderung kein Grund, den freien Ausbildungsplatz nicht mit ihm zu besetzen. Zudem wussten und wissen wir, dass wir uns bei Bedarf jederzeit an das Bildungswerk wenden können.“
 
Mittlerweile hat sich längst gezeigt, dass die psychische Behinderung keinerlei negative Auswirkungen auf die Arbeitsprozesse oder die Qualität der Arbeit hat: „Man müsste ihn vermutlich schon dauerhaft sehr genau beobachten“, so Chris­tine Krummeich, „um die psychische Behinderung überhaupt zu erkennen. Aufmerksam nimmt sie als Personalverantwortliche aber schon wahr, wenn aufgrund der psychischen Behinderung doch mal besondere Unterstützung erforderlich zu sein scheint: Bei bestimmten Aufgaben fragen wir ihn ganz offen, ob und welcher Support gewünscht ist. Allerdings immer so, dass er nie das Gefühl haben müsste, dass wir ständig Rücksicht auf ihn nehmen.“ 
 
Übrigens gelte die unternehmerische Sensibilität für persönliche Besonderheiten allen Mitarbeiter*innen, so etwa auch für Alleinerziehende, wenn es um deren Arbeitszeitregelungen geht. Genau deshalb sieht Christine Krummeich die psychische Behinderung keineswegs als Abweichung von einer sowieso nicht definierbaren Norm, sondern einfach als eine von unzähligen Persönlichkeitsausprägungen der Beschäftigten. „Sind wir nicht alle unterschiedlich?“, fragt sie geradezu philosophisch, ohne das Ökonomisch-Pragmatische aus dem Blick zu verlieren: „Wir bilden bedarfsgerecht aus. Das heißt: Wen wir ausbilden, den wollen wir auch übernehmen. In Zeiten einer schwächelnden Angebotsseite auf dem Arbeitsmarkt ist der Jugendliche für uns auf jeden Fall ein Gewinn.“ Einen Fach- und Nachwuchskräftemangel gibt es also wohl wirklich, doch genauso real sind die Lösungen dafür. Die Einstellung von Menschen mit Behinderung ist eine davon.
 

Kontakte

Marlis Kroehnert
climbtools. Fachhandel für Baumpflege und Klettertechnik, Mülheim an der Ruhr
Tel.: 0208 20767367
marlis@climbtools.de
www.climbtools.de
Christine Krummeich
conversionmedia GmbH & Co. KG, Dinslaken
Tel.: 02064 62599112
christine.krummeich@conversionmedia.de
https://www.conversionmedia.de
Irena Struwe-Filipaja
Geschäftsbereichsleitung interner Service/Personal
Stadtwerke Arnsberg GmbH, Arnsberg
Tel.: 02932 2013215
i.struwe-filipaja@stadtwerke-arnsberg.de
www.stadtwerke-arnsberg.de
www.campus-arnsberg.de

Ansprechperson in der G.I.B.

Gaby Holz
Tel.: 02041 767253
g.holz@gib.nrw.de

Autor

Paul Pantel
Tel.: 02324 239466
paul.pantel@vodafonemail.de
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