Gemeinwohl-Ökonomie ist eine 2010 ins Leben gerufene zivilgesellschaftliche Bewegung für mehr Nachhaltigkeit. Wie blicken Sie darauf?
Christian Einsiedel: Gemeinwohl-Ökonomie hat ein großes Ziel: Eine Wirtschaftsweise mit auf den Weg zu bringen, in der Unternehmen ihre Auswirkungen auf Menschen und Umwelt genauso gut im Blick haben wie ihre Finanzen. Dafür gibt es mit der Gemeinwohl-Bilanz ein Werkzeug, eine neue Brille, durch die wir auf vertraute Zusammenhänge schauen. Für Betriebe lohnt es sich, bisher vielleicht unterbelichtete Managementebenen durch diese Gemeinwohl-Brille besonders zu betrachten. Dazu zählen natürlich ökologische Themen, aber auch soziale Aspekte und Fragen der Unternehmensentwicklung. Auch wenn das zuerst abstrakt klingt, geht es konkret darum, Menschen in ihrer Veränderungsbereitschaft zu erreichen und eventuelle Blockaden aufzulösen. Wir leisten also mit der Bilanzierung Beiträge zur beruflichen Bildung für nachhaltige Entwicklung (BBNE).
Christoph Harrach: Damit bewegen wir uns in drei strategischen Feldern der Unternehmensentwicklung. Zunächst die Corporate Social Responsibility (CSR), also der Beitrag, den Unternehmen zu einer nachhaltigen Entwicklung leisten wollen und bald zum Teil auch gesetzlich nachweisen müssen. Dann ein fortschrittliches Personalmanagement (HRM), das die angesprochene BBNE in den Blick nimmt. Und schließlich die Bereitschaft und Fähigkeit zur Innovation. Denn in einer sich ständig verändernden Welt müssen Menschen und Unternehmen agil handeln. Nur im Zusammenspiel der drei Bereiche CSR, HRM und Innovation kann die Transformation zu einem zukunftsfähigen Unternehmen gelingen.
Was kann und will das Projekt AGIL dazu beitragen?
Christoph Harrach: Wir suchen mit Design Thinking als Innovationsmethode Antworten auf die Frage, wie ein gemeinwohlorientiertes, digitales Bildungsprogramm für Mitarbeitende aussehen muss, damit mittelständische Unternehmen in Ostwestfalen-Lippe zu „Champions der Nachhaltigkeit“ werden können. Dabei entwickeln wir digitale und analoge Lerninhalte und setzen uns parallel damit auseinander, welche Menschen zu den „Change Agents“ werden können, die in Betrieben den Nachhaltigkeitsgedanken über die erlernten Kompetenzen transportieren können.
Wer könnte das sein?
Christoph Harrach: Dazu haben wir in einem Workshop mit 25 Teilnehmenden aus Unternehmen, Bildungsträgern und Kammern zunächst drei unterschiedliche Charaktere erarbeitet, also Profile von Mitarbeitenden mit einer realistischen Biografie und individuellen Eigenschaften. Entlang ihrer Bedürfnisse entwickeln wir unser Bildungsangebot. Einer dieser Charaktere war zum Beispiel wenig an Gemeinwohl-Ökonomie interessiert. Die Unternehmensleitung aber hat diesen Menschen dazu bestimmt, sich in Nachhaltigkeitsthemen weiterzubilden und dies im Betrieb zu verbreiten. Profil zwei ist dagegen eine sehr motivierte Rückkehrerin nach Ostwestfalen-Lippe, deren Ideen für mehr Nachhaltigkeit im neuen Unternehmen eher auf Widerstand stoßen. Hier wäre wichtig, ihre Kompetenz zu entwickeln, anschlussfähig an das Geschäftsmodell zu werden, ohne dass sie ihr Sendungsbewusstsein überzieht.
Christian Einsiedel: Für das dritte Profil war besonders Blended Learning wichtig, also der Wunsch, zunächst allein in einem Online-Lernraum über Videos Impulse zu bekommen. Darüber sollte dann im Betrieb ein Austausch mit einer Arbeitsgruppe erfolgen, die hierarchieübergreifend besetzt ist und sich monatlich trifft. Im AGIL-Projekt entscheiden wir uns nun für das vielversprechendste dieser Profile. Dann entwickeln wir den ersten Entwurf eines Bildungsprogramms, das die Bedürfnisse dieses Menschen abdeckt und gute Ideen aus den anderen Profilen integriert. Dazu holen wir Expertenmeinungen ein, ob wir wesentliche Zielgruppen identifiziert haben und welche Programm-Ideen auf Resonanz stoßen. Anhand der Rückmeldungen verbessern wir anschließend den Prototypen, setzen eine Lernplattform auf und testen erneut mit Menschen aus unterschiedlichen Firmen.
Was soll Ihr digitales Bildungsangebot an Lerninhalten bieten?
Christoph Harrach: Inhaltlich orientieren wir uns an der erwähnten Gemeinwohl-Bilanz. Sie lenkt den Blick auf drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: auf Ökologie, auf soziale Themen wie Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit sowie auf die demokratiefördernden Aspekte der Transparenz und Mitbestimmung. Und sie erhebt, in welcher Ausprägung diese Werte in Beziehung zu verschiedenen Stakeholdern gelebt werden. Wer später am Bildungsprogramm teilnimmt, soll diese Sichtweise ebenso kennenlernen wie ausgewählte Detailthemen. Zudem soll das Erlernte direkt angewendet werden, um im Unternehmen systematisch Veränderungen für mehr Nachhaltigkeit zu bewirken. So werden alle drei Ebenen der BBNE abgedeckt: Wissen, Werkzeuge und Motivation.
Ihr Projekt arbeitet über Unternehmensgrenzen hinweg. Wie sieht der Austausch dabei aus?
Christian Einsiedel: Unser Programm soll dafür sorgen, dass Menschen sich begegnen und auch stärken. Denn Nachhaltigkeit ist etwas Multiperspektivisches, ein „Change Agent“ kann Prozesse kaum allein umkrempeln. Die größte Wirkmöglichkeit schaffen wir dann, wenn wir eine divers besetzte Gruppe von „Change Agents“ verschiedener Betriebe gleichzeitig ausbilden und vernetzen. Innerbetrieblich wäre zudem denkbar, eine Arbeitsgruppe zu installieren, die eine abgespeckte Form der Gemeinwohl-Bilanz erstellt und daraus erste Handlungsschritte ableitet. Auch hier ist Austausch möglich, zum Beispiel indem wir Teile der Arbeitsgruppe mit Menschen aus anderen Unternehmen zusammenbringen. Ideen gibt es also schon einige. Im Moment ist noch offen, welche davon am Ende so gut ankommen, dass sie auch umgesetzt werden. Das entscheiden nicht wir als Projektleiter, sondern die Nutzer beim Testen.
Warum würden Sie Unternehmen empfehlen, sich auf den Nachhaltigkeitsweg zu begeben?
Christoph Harrach: Veränderungsdruck entsteht häufig durch Fachkräftemangel. Arbeitgeber versuchen dann, auf ihre Attraktivität abzuheben und möglichst unverstaubt zu erscheinen. Ein Instrument wie die Gemeinwohl-Bilanz kann dabei helfen, sich bewusst zu werden, an welcher Stelle das eigene Unternehmen positiv wirkt und wo es sich verbessern kann.
Christian Einsiedel: Dabei ist wichtig, Greenwashing zu vermeiden. Bei der Gemeinwohl-Bilanz wirkt die umfassende Publizitätspflicht dagegen an. Die Bilanz wird vollständig online veröffentlicht, nur unternehmenskritische Kennzahlen dürfen geschwärzt werden. Hinzu kommt eine externe Begutachtung im Audit. Mit der Rebilanzierung alle zwei Jahre sind auch die Entwicklungen in einzelnen Bereichen gut vergleichbar. Unser Bildungsprogramm möchte eine Einstiegshilfe sein, ob ein Unternehmen später nun eine Gemeinwohl-Bilanz macht oder nicht. Schon die erste Beschäftigung damit ist ein Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Welt, für die Unternehmen ganz entscheidende Akteure sind.
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Das Interview führten
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Volker Stephan