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(Heft 3/2019)
Beratung und Qualifizierung für hoch qualifizierte MINT-Fachkräfte mit Migrationshintergrund

High Potentials in OWL

Ziel des Projekts „High Potentials in OWL“ ist die individuelle Förderung und ausbildungsadäquate Vermittlung hoch qualifizierter und besonders leistungsorientierter Migrantinnen und Migranten – insbesondere mit Fluchtgeschichte. Die Teilnehmenden haben MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) studiert und verfügen größtenteils über Berufserfahrung. Projektträger ist die Netzwerk Lippe gGmbH.

Da ist etwas noch nicht geschafft: Von den etwa 50.000 in Ostwestfalen-Lippe lebenden Flüchtlingen haben schätzungsweise immerhin rund 1.500 Personen einen MINT-Abschluss, darunter Ingenieurinnen und Ingenieure, IT-Spezialisten, Technikerinnen und Techniker. Sie aber, die „High Potentials“, finden trotz Fachkräftemangels in der wirtschaftlich boomenden Region eher selten einen ausbildungsadäquaten Arbeitsplatz.

Gründe dafür gibt es viele: Mangelnde Sprachkenntnisse zum Beispiel oder auch die fehlende Bereitschaft einzelner Unternehmen, diese Zielgruppe überhaupt in den Blick zu nehmen, oft aus Unkenntnis über das Potential, das hier zu finden ist.

Einen weiteren Grund sieht Dr. Wolfgang Sieber von der Netzwerk Lippe gGmbH, der kommunalen Beschäftigungs- und Qualifizierungsförderungsgesellschaft des Kreises Lippe, in den „Mechanismen der Arbeitsmarktförderung“: „Asylberechtigte Personen landen zunächst automatisch im SGB II-Leistungsbezug. Dort aber hat meist die schnelle Integration in den Arbeitsmarkt oberste Priorität. Das führt schon mal dazu, dass zum Beispiel eine iranische Kunststoffingenieurin als Reinigungskraft vermittelt werden soll. Besser wäre es, wenn alle Jobcenter gezielt nach Hochqualifizierten suchen würden, um ihnen eine berufsadäquate Beschäftigung zu erschließen und so die Fachkräftenachfrage zu befriedigen.“

Geschieht das nicht, hat das für die Betroffenen mitunter dramatische Folgen. Wolfgang Sieber: „Die Zeit arbeitet gegen die Menschen, wenn sie nicht in ihrem erlernten Beruf arbeiten können oder zeitlich extrem verzögert ins Unternehmen kommen. Wer zwei, drei Jahre im Jobcenter verbleibt und an Maßnahmen teilnimmt, hat nicht viel gewonnen, denn damit geht fast immer eine schleichende Dequalifizierung einher. Mehrere Jahre nach dem Abschluss aus dem Beruf raus zu sein, bedeutet angesichts der schnellen technischen Entwicklung im Ingenieurbereich meist einen Komplettverlust an beruflicher Kompetenz.“

Entwicklung individueller Bewerbungs- und Qualifizierungsstrategien
 

Hier setzt das vom BMAS im Rahmen des Programms Integration durch Qualifizierung (IQ) geförderte und von der Netzwerk Lippe gGmbH durchgeführte Projekt „High Potentials in OWL“ an, dessen Leiter Dr. Wolfgang Sieber ist. Das Projekt richtet sich an hoch qualifizierte und leistungsorientierte Migrantinnen und Migranten, größtenteils mit Fluchthintergrund, aber auch an Zuwanderer etwa aus Rumänien oder Spanien, deren Ausbildungsabschlüsse dem MINT-Bereich zuzuordnen sind.

Die Ansprache der Teilnehmenden erfolgt hauptsächlich im Kontext der Fachberatung zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse und durch regionale Jobcenter. Freie Bewerbungen sind jedoch ebenfalls möglich und finden auch statt. Nicht zuletzt durch die Vernetzung innerhalb der verschiedenen Communities werden interessierte Bewerberinnen und Bewerber auf das Angebot aufmerksam.

Ziel des Projekts ist, die Voraussetzungen für eine qualifikationsadäquate Einmündung in den regionalen Arbeitsmarkt zu schaffen. „Gerade Hochqualifizierte unter den Zugewanderten“, weiß Projektmit­arbeiter Tobias Isaak, „haben einen speziellen Orientierungsbedarf. Für sie sind eine realistische Standortbestimmung sowie ein Erwartungsmanagement unerlässlich, wobei Letzteres auch die Unternehmen als potenzielle Arbeitgeber umfasst, die oft hoch spezialisierte Leute als Projektmanager suchen, während die Studiengänge in den Herkunftsländern der Flüchtlinge meist breiter angelegt sind. Ohne ein Erwartungsmanagement sind Enttäuschungen vorprogrammiert.“

Zum Projekt gehören zudem die Entwicklung individueller Bewerbungs- und Qualifizierungsstrategien sowie die fachliche Vorbereitung auf die zukünftige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, alles dezentralisiert organisiert in derzeit zwei regionalen Gruppen in Detmold und Bielefeld, wobei das Gruppenformat zugleich dem Austausch dient, die Vernetzungsmöglichkeiten der Teilnehmenden untereinander fördert sowie unterstützend und motivierend wirkt.

Enge Kooperation mit Unternehmen
 

Zentrale Bedeutung bei der Arbeitsmarkt­integration hat nach Ansicht der Projektverantwortlichen ein qualifikationsadäquates Praktikum für die „High Potentials“, idealerweise also in einem Berufsfeld, das zur angestrebten Beschäftigung passt.

Wolfgang Sieber: „Wir versuchen alles, um den Teilnehmenden eine betriebliche Erprobung zu ermöglichen, die bis zu zwölf Wochen dauern kann, denn die Betriebe haben ein berechtigtes Interesse, ihr potenzielles Zukunftspersonal gründlich kennenzulernen. Manchmal aber klappt es trotz aller Bemühungen nicht, Teilnehmende in einem ihrer Ausbildung entsprechenden Beruf unterzubringen. In solchen Fällen ist es besser, etwa als Ingenieur auf Technikerniveau einzusteigen und über vom Jobcenter geförderte Umschulungen oder Weiterbildungen sukzessive aufzusteigen, als völlig berufsfremd zu arbeiten. So hat ein Erdölingenieur aus Syrien, für dessen spezielle Kompetenzen in unserer Region einfach keine Arbeitgeber zu finden waren, mit unserer Unterstützung immerhin einen Arbeitsplatz als Chemielaborant in einem Pharmaunternehmen gefunden.“

Die Zusammenarbeit mit Branchennetzwerken und der Aufbau persönlicher Netzwerke sind weitere Erfolgsgaranten des Projekts. Kooperationen bestehen etwa mit den Industrie- und Handelskammern in Bielefeld und Lippe und hier insbesondere mit den Willkommenslotsen, dem Bildungswerk der ostwestfälisch-lippischen Wirtschaft (BOW) sowie dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI), der Projektteilnehmenden sogar eine einjährige kostenlose Mitgliedschaft bietet. Das ermöglicht ihnen, die Publikationen des VDI zu studieren und sich über Fortbildungsangebote oder neueste Computerprogramme etwa für Elektroingenieure zu informieren.

Eins der Projektformate sind Betriebsbesuche, allerdings in modifizierter Art. Wolfgang Sieber: „Anfangs hatten wir bei Betriebsbesichtigungen Busse für mehr als 30 Teilnehmende gechartert. Doch da haben die Personen in der dritten Reihe schon nicht mehr verstanden, was vorne gesagt worden ist. Jetzt besuchen wir Betriebe in kleinen Gruppen von vier, fünf Leuten, die sich ganz spezielle Einrichtungen, wie zum Beispiel das firmeneigene Labor, zeigen lassen. Anschließend halten wir nach, was die Teilnehmenden hier tatsächlich lernen konnten.“

Stark engagiert: Stadtwerke Bielefeld
 

Messebesuche und Personalbörsen stehen ebenfalls auf dem Programm. Vor zwei Jahren zum Beispiel besuchten über 40 Teilnehmende vor allem aus Syrien, dem Irak und dem Iran eine von der Netzwerk Lippe gGmbH in Kooperation mit den Stadtwerken Bielefeld und der Initiative für Beschäftigung OWL e. V. organisierte „Internationale Personalbörse“ in Ostwestfalen-Lippe. Die ausgewählten „High Potentials“ verfügten über gute Sprachkenntnisse, eine anerkannte Berufsqualifikation und einen gesicherten Aufenthaltsstatus – wichtige Voraussetzungen für potenzielle Arbeitgeber, damit sie im Fall eines Beschäftigungsverhältnisses langfristig mit ihren neuen Fachkräften planen können.

Die Stadtwerke Bielefeld hatten die Börse nicht nur mitorganisiert, sondern sich mit ihren Töchtern moBiel und BITel selbst als potenzielle Arbeitgeber präsentiert. Oliver Müller, Leiter des Geschäftsbereiches Personal und Interner Service der Stadtwerke Bielefeld, nennt den Grund: „Wir hatten und haben in unserem Haus einen Mangel an Fachkräften, zum Beispiel bei den Bauingenieuren mit Vorerfahrungen im Kontext von Infrastruktur sowie im Bereich Telekommunikation identifiziert. Auf dem hiesigen Arbeitsmarkt sind sie kaum zu finden, weil Ostwestfalen-Lippe ein extrem starker Wirtschaftsstandort mit gleich mehreren Unternehmen ist, die in ihrer Sparte Weltmarktführer und für hoch qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber äußerst attraktiv sind. Die greifen am Arbeitsmarkt frühzeitig alles ab, was es an Bauingenieuren in der Region gibt.“

Um seinen Fachkräftebedarf zu decken, bildet das Unternehmen umfassend selbst aus und ist bei seiner Personalrekrutierung schon lange international aufgestellt: „Wir haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus 35 Nationen im Unternehmen, nicht nur Geflüchtete, sondern auch Menschen aus Italien oder Jugoslawien, die schon viel früher nach Deutschland gekommen sind.“

Kaum eine Überraschung vor diesem Hintergrund, dass die Stadtwerke von Beginn an eng mit dem Projekt kooperierten. Oliver Müller: „Die Zusammenarbeit war äußerst vorteilhaft für uns. Wir konnten uns die Profile der Teilnehmenden in der Datenbank ansehen, darunter die eines Bauingenieurs und eines Ingenieurs aus der Telekommunikationsbranche. Unsere Fachabteilungen haben sich die Profile genauer angesehen und mit ihren eigenen Personalbedarfen verglichen und entschieden, ob die Bewerberinnen und Bewerber zu unserem Anforderungsprofil passen oder nicht.“ Weiterer Vorteil des Projekts in seinen Augen: „Bei Erprobungen und Praktika fungiert die Netzwerk Lippe gGmbH als Vermittler zu Jobcenter und Arbeitsagentur. Der Aufwand für unser Unternehmen war damit äußerst gering.“

„Das Praktikum ist eine Bereicherung“
 

Eine der mit ihrem Profil in der Projektdatenbank vertretenen Personen war Zedank Khodeda Karit Kreet: 40 Jahre, Heimatland Irak, seit 2016 in Deutschland. Er suchte eine Praktikums- oder Arbeitsstelle als Bauingenieur mit den Fachrichtungen Hochbau und Infrastruktur. Der „Bachelor Bauingenieurwesen (Fachrichtung Hochbau)“ und „Master of Business Administration“, war dort zu lesen, verfügt über Softwarekenntnisse (MS Office und AUTOCAD) und Sprachkenntnisse in Kurdisch und Arabisch als Muttersprachen sowie „sehr gute“ Deutsch- und Englischkennnisse.

Im Irak hatte er bereits mehr als zehn Jahre als Bauingenieur und Supervisor bei Infrastrukturprojekten gearbeitet. Als „besondere Kompetenzen“ angeführt waren im Profil „Leitungserfahrung, Unternehmensberatung im Bereich Bauwesen sowie internationale Arbeitserfahrungen mit dem Schwerpunkt China“, hinzu kamen Schlüsselkompetenzen wie Teamfähigkeit oder Verantwortungsbereitschaft. Genannt war zudem sein soziales Engagement: „die humanitäre Unterstützung von jesidischen Geflüchteten im Irak in Zusammenarbeit mit verschiedenen internationalen NGOs.“

In den Augen von Stadtwerke-Personalchef Oliver Müller und der zuständigen Fachabteilung war Zedank Khodeda Karit Kreet, der zuvor im Projekt seine Bewerbungsunterlagen erstellt und sich auf Vorstellungsgespräche vorbereitet hatte, damit ein geeigneter Kandidat für eine Praktikumsstelle im Unternehmen. Für ihn eine echte Chance. Hier konnte er zeigen, was er wirklich kann – offensichtlich zur Zufriedenheit des Unternehmens: Seit mittlerweile einem halben Jahr arbeitet er als Ingenieur in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis bei der Bielefelder moBiel GmbH.

„Heute“, sagt er, „bin ich mit dabei, wenn wir zu den Baustellen fahren, nehme an Baubesprechungen teil und lerne jeden Tag neue Fachbegriffe hinzu. Drei Jahre hat es gedauert, bis ich einen Arbeitsplatz gefunden habe. Das ist eine lange Zeit, in der ich viel verpasst habe, was die technische Entwicklung betrifft. Also muss ich mein Wissen auffrischen und viel zu Hause recherchieren.“

Ebenfalls erfolgreich bei der Praktikums- und Arbeitsplatzsuche als IT-Spezialist in den Bereichen Netzwerkadministration und Softwareentwicklung war Aziz Semo, 33 Jahre, Heimatland Syrien, in Deutschland seit 2015. Vorweisen konnte er als Hochschulabschluss den „Bachelor Computer System Engineering mit der Fachrichtung Netzwerkadministration“ sowie Kenntnisse im Bereich „Master Webtechnologie mit der Fachrichtung Webdesign“. Besondere Kompetenzen in seinem Fall: Erfahrungen im Bereich „Programmieren, Netzwerk und Logik im pädagogischen Kontext“. Gearbeitet hatte er bis dahin unter anderem in einer staatlichen Landwirtschaftsbank sowie in privaten Lehrinstituten im Bereich EDV sowie an einer Berufsfachschule für Computertechnik im Irak.

Frühere Bewerbungen waren an der fehlenden Berufserfahrung in Deutschland gescheitert. Ein im Projektkontext absolviertes Praktikum bei der BiTel Gesellschaft für Telekommunikation mbH bot endlich die ersehnte realistische Chance. Weil es nach vier Monaten aber noch keine freie Stelle im Unternehmen gab, wurde das Praktikum mit Genehmigung des Jobcenters verlängert. Eine Entscheidung, die sich ausgezahlt hat: Heute hat er in dem Unternehmen einen sicheren Arbeitsplatz als IT-Fachkraft.

Auch er hält den allgemeinen, nicht berufsbezogenen Sprachunterricht im Vorfeld für unzureichend: „Arbeit und Freizeit, das ist ein großer Unterschied. Um Pläne zu verstehen, brauche ich speziellere Deutschkenntnisse. Aber bei der Arbeit lerne ich jeden Tag fachlich und sprachlich hinzu, neue Begriffe notiere ich mir sofort.“ Die deutsche Sprache erlernt er auch im Kontext seines sozialen Engagements: bei der Begleitung geflüchteter Kinder an der Bültmannshofschule im Rahmen des AWO-Projekts „Starke Kids für Bielefeld“.

Wünschenswert: Berufsbezogene Sprachförderung
 

Zur Verbesserung berufsbezogener Deutschkenntnisse von Flüchtlingen regt Stadtwerke-Personalchef Oliver Müller dazu an, Sprachpaten im Unternehmen einzusetzen. Gleichzeitig aber gelte es, den Aufwand für Unternehmen so gering wie möglich zu halten. Auch Dr. Wolfgang Sieber hält die Sprachförderung im Arbeitsverhältnis für „entwicklungsfähig“: „Das BAMF versucht, die Integrationskurse mit Beschäftigung zu synchronisieren, aber das sind Einzelfälle.“

Sinnvoll wären nach seiner Ansicht „kleinere Formate“: „Es müssen nicht unbedingt 600 Stunden und auch das B1-Niveau sollte nicht zwingend sein. Gute Ansätze gab es im IQ-Bereich mit einem Sprachcoaching während der Beschäftigung im Betrieb. Aber das war auf pädagogische Berufe beschränkt. Wir brauchen spezielle Sprachkurse etwa für Elektroingenieure, aber so etwas gibt es nur für Ärzte und Pflegekräfte. Das würde die Hemmschwelle der Unternehmen, Flüchtlinge einzustellen, senken. Solange es aber diese speziellen Kurse nicht gibt, arbeiten wir daran, Selbstlernstrategien zu entwickeln und das neue Format in das Projekt zu integrieren.“

Zedank Khodeda Karit Kreet und Aziz Semo sind mit ihrem erfolgreichen Berufseinstieg übrigens keine Einzelfälle im „High Potentials“-Projekt: Mehr als 20 Personen haben im bisherigen Projektverlauf einen Arbeitsplatz oder eine Ausbildungsstelle gefunden – nicht irgendwo, sondern entsprechend den Projektansprüchen ausbildungsadäquat!

Kontakte

Netzwerk Lippe gGmbH
Braunenbrucher Weg 18
32758 Detmold
Dr. Wolfgang Sieber
Bereichsleitung Arbeitsmarktintegration
Tel.: 05231 6403-80
w.sieber@netzwerk-lippe.de

Stadtwerke Bielefeld GmbH
Schildescher Straße 16
33611 Bielefeld
Oliver Müller
Geschäftsbereich Personal und interner Service
Tel.: 0521 51-4031
oliver.mueller@stadtwerke-bielefeld.de

Ansprechperson in der G.I.B.

Jochen Bösel
Tel.: 02041 767253
j.boesel@gib.nrw.de

Autor

Paul Pantel
Tel.: 02324 239466
paul.pantel@vodafonemail.de
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