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(Heft 3/2019)
Interview mit Petra Reinbold-Knape, IG BCE

„Wir müssen der Bildung mehr Zeit zugestehen“

Petra Reinbold-Knape ist seit 2015 Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstandes der IG BCE. Sie ist zudem Mitglied im Verwaltungsrat der Bundes­agentur für Arbeit.

G.I.B.: Frau Reinbold-Knape, der digitale Wandel und die Auswirkungen auf die Arbeitswelt sind in aller Munde. Wie erleben Sie diesen Prozess aktuell in der chemischen Industrie?

Petra Reinbold-Knape: Die Chemische Industrie ist als Treiber von Innovation bekannt. Es handelt sich meist um einen kontinuierlichen Prozess zur Optimierung von Bestehendem, zum Beispiel Dienstleistungen, Produkten oder Prozessen. Ein Vergleich von Steuerständen heute und vor 10 oder 20 Jahren würde dieses deutlich machen.

Was für die chemische Industrie gilt, trifft auch für unsere anderen Branchen zu, wie zum Beispiel die Energiewirtschaft. In der Energieindustrie geht es dabei um die Frage, wie die Energieversorgung der Zukunft aussehen soll. Ein Beispiel dafür ist das virtuelle Kraftwerk, also die Zusammenschaltung von dezentralen Stromerzeugungseinheiten wie zum Beispiel Photovoltaikanlagen, Wasserkraftwerken, Biogas-, Windenergieanlagen und Blockheizkraftwerken zu einem Verbund.

Diese Veränderungen haben, genauso wie die Globalisierung und der demografische Wandel, massive Auswirkungen auf die Produktions- und Verwaltungsprozesse, den Fachkräftebedarf und die Fachkräfteentwicklung sowie die Arbeitsbedingungen.

Die Digitalisierung verändert aber auch die Anforderungen in der Ausbildung. Heute lernen Auszubildende in der chemischen Industrie im Technikum, quasi einem Bindeglied zwischen Laboratorium und Großproduktion, wo zum Beispiel Apparate oder Verfahren unter Betriebsbedingungen getestet werden, mithilfe einer Virtual-Reality-Brille. Das zeigt, wie wichtig es ist, unsere Berufsbilder zukunftsfähig zu gestalten. Das gelingt über die Sozialpartnerschaft ganz gut, wo zurzeit Bildung und Weiterbildung, Arbeitsorganisation, Flexibilität und Arbeitszeitsouveränität die Schwerpunktthemen sind.

Gemeinsam mit dem Arbeitgeberverband Chemie haben wir in diesem Kontext das Berufsbild für Chemikantinnen und Chemikanten neu geordnet. Die Neuordnung war nötig, weil der technologische Fortschritt mit seiner Vernetzung von IT- mit Produktionssystemen, der Einsatz mobiler Endgeräte und neuer Software, Simulationen und Datenanalysen nicht nur Prozesse optimiert und die Effizienz steigert, sondern auch Auswirkungen auf die Arbeit der Menschen hat und zu anderen Qualifikationsanforderungen führt. Deshalb enthält die Änderungsverordnung nun die weitere Wahlqualifikation „Digitalisierung und vernetzte Produktion“.

G.I.B.: Wie unterstützt die IG BCE ihre Mitglieder oder ganz allgemein die Beschäftigten bei diesem digitalen Wandel?

Petra Reinbold-Knape: Zunächst müssen wir uns immer bewusst sein, dass die Digitalisierung Chancen, aber auch Risiken birgt. So ist nach aktuellen Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in einem Beruf mit hohem Substituierbarkeitspotenzial arbeiten, von 15 Prozent im Jahr 2013 auf 25 Prozent im Jahr 2016 gestiegen. Da ist es verständlich, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Sorgen machen. Deshalb haben wir aktuell eine Umfrage bei den Beschäftigten in unseren Betrieben gestartet, über die wir herausfinden wollen, wie sie die Digitalisierung bewerten, welche Ängste sie haben und was wir als Gewerkschaft ihrer Meinung nach regeln sollten. Auf dieser Basis wollen wir gemeinsam mit den Betriebsräten und Vertrauensleuten Ideen entwickeln, wie wir die Interessen der Beschäftigten tarifpolitisch durchsetzen können.

Unterstützung bieten wir den Betriebsräten und Beschäftigten aber auch mit der im Projekt „Arbeit 2020 in NRW“ entwickelten Betriebslandkarte. Sie zeigt, wie sich der Einsatz von Technik auf die unterschiedlichen Abteilungen und Bereiche im Unternehmen auswirkt, wie weit Vernetzung und Selbststeuerung in den einzelnen Bereichen fortgeschritten sind und in welche Richtung sie sich weiterentwickeln könnten. Mithilfe der Betriebslandkarte können Betriebsräte und Beschäftigte erkennen, ob Arbeitsplätze in den unterschiedlichen Abteilungen auf- oder abgebaut werden, ob die Qualifikationsanforderungen steigen oder sinken und ob die Belas­tungsfaktoren zu- oder abnehmen. Insgesamt ein gutes Werkzeug, das einen klaren Überblick über Digitalisierungsprozesse im Unternehmen verschafft und das wir auch in andere Bundesländer und Unternehmen transferieren können, die nicht am Projekt beteiligt waren.

Darüber hinaus haben wir, nur als weiteres Beispiel, gemeinsam mit dem Bundesarbeitgeberverband Chemie e. V. (BAVC) einen Prozess eröffnet, der sich „work@industry“ nennt. Hier arbeiten die Chemie-Sozialpartner in Workshops an wichtigen Zukunftsthemen einer digitalisierten Arbeitswelt. Ziel des Dialogs ist ein gemeinsames Verständnis der Sozialpartner zur digitalen Transformation als Grundlage, um die Chancen neuer Technologien für die Branche zu nutzen und Arbeitsbedingungen für die Zukunft attraktiv zu gestalten. Die Themen Aus- und Weiterbildung, orts- und zeitflexibles Arbeiten sowie gutes und gesundes Arbeiten bilden dabei die Schwerpunkte.

G.I.B.: Was braucht es Ihrer Meinung nach auf politischer Ebene, um im digitalen Wandel die Interessen der Beschäftigten in den Betrieben angemessen zu vertreten?

Petra Reinbold-Knape: Ein zentrales Thema ist sicher die Weiterbildung. Hier braucht es zunächst ein politisches Commitment auf höchster Ebene, so wie es in der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“, dem nationalen Fachkräfte-Dialog und in der gemeinsam von BMAS, BMBF, den Sozialpartnern, Ländern, Kammern und der Bundesagentur für Arbeit entwickelten Nationalen Weiterbildungsstrategie zum Ausdruck kommt.

Die Nationale Weiterbildungsstrategie wurde im Koalitionsvertrag vereinbart. In ihrem Strategiepapier, welches im Juni veröffentlicht wurde, haben sich die beteiligten Stakeholder auf ein Maßnahmenbündel verständigt. In den nächsten Monaten sollen die Maßnahmen umgesetzt werden.

Mit dem Qualifizierungschancengesetz hat Bundesarbeitsminister Heil einen ersten Schritt in die richtige Richtung unternommen. Ein verbindliches Recht auf Weiterbildungsberatung für Beschäftigte und Betriebe durch die Bundesagentur für Arbeit wurde eingeführt. Die Förderung für die betriebliche Weiterbildung wurde erweitert. Der Fokus liegt auf den KMUs. Die Strategie ist auch insofern zu begrüßen, als sie die Möglichkeit bietet, das Thema „Digitalisierung und Weiterbildung“ über die Betriebsräte in die kleinen und mittleren Betriebe zu bringen. Sie haben oft noch keine Vision davon, wo sie in wenigen Jahren stehen wollen. Jetzt kommt es darauf an, das Gesetz umzusetzen. Die Länder können hier einen wichtigen Beitrag leisten. Hier lässt sich heute schon anerkennend sagen: Da macht der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann einen guten Job!

Was fehlt, ist jedoch ein individueller Anspruch der Beschäftigten, damit sie sich im Bedarfsfall auch jenseits der betrieblichen Anforderungen weiterentwickeln können.

Nicht zufrieden sind wir mit dem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für das Gesetz zur Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung, das Berufsbildungsmodernisierungsgesetz. Im Entwurf sind die gewerkschaftlichen Forderungen unberücksichtigt. Schlimmer noch, der Entwurf würde in seiner jetzigen Form eine Verschlechterung des bestehenden Berufsbildungsgesetzes bedeuten. Beispiel: Die Prüferinnen und Prüfer haben eine wichtige Funktion im dualen Ausbildungssystem. Sie sind sozusagen die Qualitätskontrolle. Dabei handelt es sich um ein Ehrenamt, welches gestärkt werden muss. Unsere Forderung einen Entgeltersatz vergleichbar mit der Feuerwehr oder anderer öffentlichen Aufgaben einzurichten, wurde nicht aufgenommen. Obwohl es immer schwerer wird, Prüferinnen und Prüfer zu finden. Weil viele nicht bereit sind im hohen Maße ihre freie Zeit einsetzen zu müssen.

Auf der anderen Seite benötigen die jungen Menschen als Grundlage für den lebensbegleitenden Lernprozess ein solides Fundament. Dieses muss in einer drei- bis dreieinhalbjährigen Erstausbildung gelegt werden. Wir müssen der Bildung mehr Zeit zugestehen! Im Gesetzentwurf wird die Schaffung von zweijährigen Berufen erleichtert. Eine falsche Antwort.

In der Diskussion über zweijährige Ausbildungsberufe haben wir als Gewerkschaft ein Stufenmodell vorgeschlagen. Der Auszubildende macht zunächst eine zweijährige Ausbildung, hat dann aber das Recht auf ein drittes Ausbildungsjahr, wobei der Auszubildende entscheidet. Das hat das Bundesbildungsminis­terium leider abgelehnt.

Wir sehen auch Defizite bei der Aktualisierung von Ausbildungsabschlüssen, weil sich in vielen Berufen die Inhalte verändert haben. Hier müssten Facharbeiter die Möglichkeiten haben, ihren Abschluss durch ein Update zu aktualisieren und so nachzuweisen, dass sie beruflich auf dem aktuellen Stand sind. Hier geht das Bundesbildungsministerium trotz gesetzlicher Möglichkeiten nicht mit, weil es angeblich nicht in den Markt eingreifen will.

G.I.B.: Nicht nur die Jüngeren, auch die Älteren müssen sich qualifizieren. Wie können Betriebe auch Beschäftigte im höheren Alter zur Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen motivieren?

Petra Reinbold-Knape: Jetzt muss ich zunächst mal eine Lanze für die ältere Generation brechen. Dass diese Gesellschaft und diese Wirtschaft funktionieren, hat damit zu tun, dass die ältere Generation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiß, wie man es macht und an welcher Schraube man an der Maschine drehen muss, und zwar ohne große Gebrauchsanweisung. Das ist genauso wichtig wie über digitale Kompetenzen zu verfügen.

Aber grundsätzlich ist natürlich richtig, dass sich auch Ältere weiter qualifizieren müssen – genauso wie die Jüngeren. Wir haben gemeinsam mit den Sozialpartnern der chemischen Industrie in Projekten KMU begleitet, in denen es darum ging, dass ältere Beschäftigte ihr Prozesswissen an jüngere weitergeben können, damit ihr Renteneintritt nicht zu einem Know-how-Verlust für den Betrieb führt, und gleichzeitig – umgekehrt – den Wissens- und Kompetenztransfer von den Jüngeren zu den Älteren zu organisieren. Gerade bei älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist dabei genau zu überlegen, welche Lernformen zum Einsatz kommen und zugleich zu berücksichtigen, dass gerade die An- und Ungelernten unter ihnen oft negative Lernerfahrungen hinter sich haben.

Vor allem aber kommt es darauf an, Zukunftsperspektiven aufzuzeigen. Das gelingt nur, wenn der Betrieb klare Vorstellungen davon hat, wo die digitale Reise hingeht und welche Rolle jeder Einzelne in diesem System einnehmen wird. Wer weiß, dass er sich dazu qualifizieren muss, um seinen Arbeitsplatz zu erhalten, bei dem steigt auch die Motivation.

G.I.B.: In einem Strategiepapier hat der DGB, bei dem die IG BCE Mitglied ist, von Betriebsräten als Weiterbildungsmentoren gesprochen und zugleich die Einführung eines „Transformationskurzarbeitergeldes“ gefordert, damit die Betriebe den digitalen Wandel besser gestalten können. Was ist damit konkret gemeint und was halten Sie von der Idee?

Petra Reinbold-Knape: Anders als beim konjunkturellen Kurzarbeitergeld, das dazu dient, in einer außergewöhnlichen Situation Entlassungen zu vermeiden, geht es beim Transformationskurzarbeitergeld darum, Beschäftigten die Möglichkeit zu geben, sich bei grundlegenden Umbrüchen in einer Branche im Job weiterzubilden und dabei Kurzarbeit und Qualifizierung zu verknüpfen. Ziel ist also, Beschäftigung zu erhalten und gleichzeitig die Chance auf eine Weiterbeschäftigung nach dem Umbau eines Unternehmens zu ermöglichen. Wie beim regulären Kurzarbeitergeld soll sich die Bundesagentur an den Kosten beteiligen.

Gleichzeitig muss nach unserer Auffassung der bereits bestehende Rechtsanspruch auf eine Weiterbildungsberatung ergänzt werden durch ein Recht auf Weiterbildung und berufliche Neuorientierung.

Zudem fordern wir ein Recht auf das Nachholen von Berufsabschlüssen und mehr finanzielle Unterstützung von Menschen, die sich in der Arbeitslosigkeit weiterqualifizieren, damit nicht, wie jetzt der Fall, ein Ein-Euro-Job finanziell attraktiver ist als die Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme. Außerdem fordern wir deutlich mehr Mitspracherechte für Betriebsräte bei Weiterbildung und Qualifizierung in Unternehmen. Wir brauchen ein generelles Initiativrecht bei der Ein- und Durchführung der betrieblichen Berufsbildung.

In der Nationalen Weiterbildungsstrategie haben die beiden Chemie-Sozialpartner ein Commitment abgegeben, gewerkschaftliche Vertrauensleute zu Weiterbildungsmentoren auszubilden. Sie können als Expertinnen und Experten vor Ort am ehesten aufgrund des bestehenden Vertrauensverhältnisses die Ängste und die Vorbehalte aufseiten der Beschäftigten abbauen.

G.I.B.: Bei unvermeidbarem Personalabbau hat sich der „Beschäftigtentransfer“ als wirkungsvolles Instrument im Interesse der Beschäftigten wie auch der Betriebe erwiesen. Allerdings sind Transfergesellschaften nur einzelbetrieblich umsetzbar. Gibt es in Ihrem Haus Überlegungen, die Instrumente branchenbezogen weiterzuentwickeln wie zum Beispiel in Schweden oder wie bei der „Arbeitsstiftung“ in Österreich?

Petra Reinbold-Knape: Modelle von einem Land in das andere zu übertragen, ist in der Regel nicht möglich. Die sozialen Systeme sind zu unterschiedlich. Denken Sie nur an die Tarifbindung, die in Schweden deutlich höher ist als hier bei uns. Selbst das in Österreich geltende Versicherungssystem ist nicht ohne Weiteres zu übertragen. Grundsätzlich aber diskutieren wir schon seit längerer Zeit über Branchenlösungen und versuchen das tarifpolitisch zu flankieren, etwa mit der Roadmap 4.0. Die Sozialpartner der Chemischen Industrie versuchen gemeinsam, die neuen Herausforderungen der Zukunft der Arbeit zu gestalten. Die Weiterbildung ist ein zentrales Thema in diesem Prozess.

Bei all dem wird deutlich, wie wichtig Mitbestimmung ist. Unser Betriebsverfassungsgesetz ist von 1972 und das Mitbestimmungsgesetz von 1976. In beiden Gesetzen steht nichts vom digitalen Wandel. Wenn wir in diesem Zusammenhang etwas gestalten wollen und der Arbeitgeber sagt, in § 87 Absatz 1 des Gesetzes steht aber nichts dazu drin, dann haben wir ein Problem. Deswegen reicht uns die im Koalitionsvertrag beschriebene Erweiterung des Mitbestimmungsrechts der Betriebsräte bei der Weiterbildung nicht. Ein Mitbestimmungsrecht zeichnet sich dadurch aus, dass im Streitfall eine Einigungsstelle mit einem neutralen Vorsitzenden entscheidet. Dies wurde im Koalitionsvertrag aber ausdrücklich ausgeschlossen. Die Einigungsstelle wurde durch einen Moderator ohne Entscheidungskompetenz ersetzt. Es wurde also ein kastriertes Mitbestimmungsrecht kreiert, welches keine Wirkung haben wird.

Gerade jetzt, im Jahr der Europawahl und 70 Jahre nach Einführung von Grundgesetz und Tarifvertragsgesetz brauchen wir mehr Mitbestimmung für Betriebsräte in Deutschland, aber auch auf europäischer Ebene. Nur so, nur auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern lassen sich in Zeiten von Digitalisierung, Globalisierung und demografischem Wandel die Interessen der Beschäftigten angemessen vertreten.

Das Interview führten

Carsten Duif
Tel.: 02041 767178
c.duif@gib.nrw.de

Arnold Kratz
Tel.: 02041 767209
a.kratz@gib.nrw.de

Kontakt

Industriegewerkschaft Bergbau,
Chemie, Energie (IG BCE)
Petra Reinbold-Knape
Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands
Königsworther Platz 6
30167 Hannover
Tel.: 0511 7631-0
info@igbce.de
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