G.I.B.: Herr Prof. Dr. Mühlbradt, der digitale Wandel und die Auswirkungen auf die Arbeitswelt sind in aller Munde. Wie erleben Sie diesen Prozess?
Dr. Thomas Mühlbradt: Ich erlebe diesen Prozess insbesondere auf zwei Ebenen. Zunächst einmal blicke ich als Psychologe mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie darauf. Die englische Psychologin Lisanne Bainbridge wies schon im Jahr 1983 in einem Artikel mit dem Titel „Ironies of Automation“ auf die widersprüchliche Situation hin, dass wir automatisieren, um die Fehlerquelle Mensch zu eliminieren, aber durch die Automatisierung wieder neue Fehlermöglichkeiten schaffen. Und ihre These ist wahrer denn je. Wenn ich Prozesse noch schneller, intensiver und stärker automatisieren kann, erhöht das die Komplexität und potenziert die „Ironies of Automation“ in einem Maße, wie Bainbridge das nie voraussehen konnte. Auf der anderen Seite wissen wir aus vielen Jahren wissenschaftlicher Forschung, dass Menschen eine Reihe von Denkfehlern unterlaufen. Eigentlich könnten wir also maschinelle Unterstützung für viele Dinge gut gebrauchen. Zum Beispiel, um Muster in einer unüberschaubaren Menge von Daten zu erkennen oder um durch Visualisierung Trends zu erkennen. Das ist ein vielversprechendes Gestaltungsfeld.
Als MTM-Mitarbeiter schaue ich andererseits auf den digitalen Wandel auch mit dem Blick auf die Veränderung der Arbeitswirtschaft im Bereich der Industrial Engineers. Da sind wir selber sozusagen Gegenstand der Digitalisierung, orientieren uns am Stand der Technik und versuchen, neue Produkte zu entwickeln.
G.I.B.: Wie gehen kleine und mittlere Unternehmen (KMU) Ihrer Einschätzung nach mit dem digitalen Wandlungsprozess um?
Dr. Thomas Mühlbradt: Das haben wir uns im Rahmen des Projekts KMU 4.0 näher anschauen können. Alle teilnehmenden Unternehmen sind kleine produzierende Unternehmen. Diese Unternehmen gehen anders mit dem Digitalisierungsprozess um als Großunternehmen. Bei ihnen geht es konkret um zwei Fragen: Wie kann ich durch Digitalisierung schneller und sparsamer produzieren? Und zweitens: Welche Produkte kann ich entwickeln?
Ein Problem-Thema in der Produktion ist die Frage der Transparenz des gesamten Wertschöpfungsprozesses. Man muss sich vorstellen, dass die Unternehmen teilweise mit Software und Lösungen arbeiten, die in den 1990er Jahren konzipiert wurden. Sie sind damit in der Lage, die Finanzbuchhaltung ordentlich zu bewerkstelligen und die Eingangsdaten der Aufträge zu erfassen, doch wenn der Auftrag in die Produktion geht, fällt er in ein großes schwarzes Loch. Man möchte aber heute genauer wissen, an welcher Maschine sich das Produkt gerade befindet, wie viel Material an welchem Ort auf Lager ist. Bisher läuft sehr viel auf Zuruf und erfahrungsbasiert. Der Meister in der Produktion „meistert“ die Arbeiten, die zu tun sind. Wenn er ausfällt, ist es mit der Transparenz vorbei. Man kann auf ein neues ERP-System1 umsteigen. So lässt sich beispielsweise die Produktionsplanung und -steuerung in ein einziges System zusammenführen und mit relativ schnell erstellbaren Apps arbeiten, die auf Smartphones laufen. Das ergibt neue Gestaltungsmöglichkeiten.
Der zweite relevante Bereich im Projekt ist Qualifizierung. Auch da gibt es meistens kein klares Konzept. Für eines der Projekt-Unternehmen haben wir ein Assistenzsystem mithilfe digitaler Medien entwickelt. Man kann sich den Optimalablauf eines bestimmten Arbeitsvorgangs jetzt an Tablets an dem Arbeitsplatz anschauen. Ich glaube, dass die Hersteller von Maschinen solche Lösungen zunehmend integrieren werden.
G.I.B.: Was heißt das aber für Fachkräfte, wenn sich das System der bildlichen Anweisung durchsetzt, die man nur noch nachmachen muss?
Dr. Thomas Mühlbradt: Es gibt verschiedene Konzepte. Das Konzept der simplen Visualisierung folgt dem Prinzip „Monkey see, monkey do“. In wenigen Fällen mag das funktionieren, aber für viele Bereiche glaube ich nicht daran. Ich zähle mich eher zu der Fraktion, die die ursprüngliche Konzeption der job-instruction-method als Basis sieht, eine schon 1944 in Amerika entwickelte Methode zur schnellen Qualifizierung von Menschen ohne Fachkenntnisse. Sie vermittelt nicht nur das, was getan werden soll, sondern auch wie und warum. Sie hat also geistigen Inhalt. Ich glaube, wenn man rein auf die Visualisierungs-Strategie setzt, wird man einen Preis dafür zahlen, der in Qualitätsmängeln und Fehlern bestehen wird. Und in mangelnder Flexibilität der Kräfte. Im Moment gibt es eine offene Debatte, inwieweit sich der Weg der Visualisierung gehen lässt und welcher Mix sich durchsetzen wird.
G.I.B.: Wie kann es gelingen, dass die Unternehmen sich nach einem Projekt wie KMU 4.0 nicht einfach zurücklehnen, sondern bei der Digitalisierung am Ball bleiben, sodass sich eine nachhaltige Wirkung entfaltet?
Dr. Thomas Mühlbradt: Zwei Punkte sind wichtig. Der Erste: Am Projektende muss ein Produkt vorhanden sein, mit dem das Unternehmen arbeiten kann. Hier sind die Ingenieure gefragt. Der Ingenieur muss technische Lösungen finden, etwa eine App oder digitale Medien. Das hilft, um die Nachhaltigkeit in den Unternehmen zu unterstützen. Es geht darum, pragmatische Ansätze zu suchen, um Digitalisierungsprozesse umzusetzen.
Und das Zweite: Es gibt in den KMU nicht den großen strategischen Ansatz. Mitarbeiter werden zum Beispiel erst dann qualifiziert, wenn bestimmte Fragestellungen tatsächlich entstehen, alles andere wird als wenig sinnvolle „Bevorratungs-Qualifizierung“ angesehen. Die Gefahr ist, dass die Unternehmen digitale Tools übernehmen, die sie nicht genau kennen. Es ist daher wichtig, den Knowledge-Triangel-Gedanken umzusetzen, der die drei Bereiche Forschung, Bildung und Innovation in Beziehung setzt. Wenn man sich mit den Unternehmen über Digitalisierungs-Pakete unterhält, ist es unbedingt notwendig, auch über den Mindest-Qualifizierungsanspruch zu reden. Die technische Lösung muss also mit einem Qualifizierungspaket und der Kompetenzentwicklung verbunden werden, damit sie die Lösung nachhaltig weiterbetreiben können.
Wenn es um den überbetrieblichen Transfer geht, ist es wichtig, dass man den Unternehmen reale Lösungen, die bereits implementiert sind und funktionieren, zeigen kann. Ein wichtiger Punkt ist es daher, Zugänge zu solchen Beispielen zu schaffen. Man sollte sich außerdem vor Augen halten, dass es sich beim Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen um ein Kompetenzzentrum handelt, in dem im Rahmen von vielen verschiedenen Projekten Wissenschaft, Unternehmen und andere Partner zusammenkommen. Zentren dieser Art haben eine große Bedeutung für den Transfer, weil sie es erlauben, die Idee des Knowledge-Triangel umzusetzen, also Bildung, Forschung und Innovation so zu verknüpfen, dass daraus ein sich selbst verstärkender Prozess wird.
G.I.B.: Wie würden Sie zusammenfassend das Verhältnis von kleinen und mittleren Unternehmen zur Digitalisierung charakterisieren?
Dr. Thomas Mühlbradt: Man muss sich von bestimmten Gedanken lösen. Jobverluste durch Digitalisierung oder Automatisierung sind im Mittelstand nicht das Thema. Das ist eher der Fachkräftemangel.
Ich denke, gerade im Mittelstand liegen im Bereich der Digitalisierung viele Chancen. Die Mitarbeiter sind im Allgemeinen viel aufgeschlossener als man gemeinhin denkt. Sie haben auch durch die Erfahrung in ihrem Privatleben in einem früher nicht gekannten Maß den Eindruck, dass durch die Digitalisierung große Fortschritte möglich sind und transponieren ihre privaten Erfahrungen auf die mitunter hinterherhinkenden Prozesse im eigenen Betrieb.
Und auch die heutige Generation der Maschinenbau-Ingenieure tickt anders als die früheren Generationen. Sie beteiligen zum Beispiel bei der Entwicklung der Mensch-Maschine-Schnittstelle, die eine App sein kann, die späteren User ganz selbstverständlich. Ich habe also die Idee und die Hoffnung, dass wir so etwas wie aufgeklärte Ingenieure bekommen und alle, die Software entwickeln und in der Automatisierung arbeiten, den Wunsch der Mitgestaltung der Anwender in ihr Denken und Handeln einbauen.
1 ERP steht für Enterprise-Resource-Planning-System oder auch Warenwirtschaftssystem, also die Ressourcenplanung eines Unternehmens. Sie dient der Unterstützung, Bündelung und Steuerung aller notwendigen Geschäftsprozesse innerhalb eines Unternehmens. Gemeint sind damit, alle für die Produktion oder Dienstleistung notwendigen Mittel und Güter wie Kapazitäten, Personal, Material, Finanzen.
Das Interview führten
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